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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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mitfühlend.
    »Ach«, macht sie dann kurz – so ein ganz typisches, wegwerfendes Ömi-Ach. »Nein, nein!« Dann lächelt sie ihr typisches »Man-beklagt-sich-nicht«-Lächeln, das jeden anderen Zahnschmerzpatienten ins Land der Hypochondrie verweist. Die Botschaft dabei ist: Man nimmt sich und die eigenen Befindlichkeiten nicht so ernst. Bescheidenheit bis zum Exzess.
    »Aber als sie am Kieferknochen gesägt haben, das muss doch grässlich gewesen sein«, sage ich, Ömi aber macht nur wieder ihr kurzes »Ach« und »Nein, nein«.
    »Aber spätestens als die Betäubung nachließ – da hattest du doch bestimmt höllische Schmerzen!«, setze ich nach. Aber es ist nichts zu wollen, Ömi zuckt nur ein wenig mit den Schultern und fegt jeden Gedanken daran, sie sei ein Mensch aus Fleisch und Blut, weg. Umgekehrt darf man sich natürlich auch kein Mitleid erhoffen, wenn man selbst Schmerzen hat. Ömi ist zwar zu gut erzogen, um das auszusprechen, was sie sich denkt (nämlich: »Hab dich doch nicht so, das gehört sich nicht!«). Sie legt stattdessen den Kopf schief und sagt höflich: »Ojeeeeh.« Doch der spöttische Blick, mit dem sie dies garniert, spricht Bände.
    Überhaupt ist Ömi extrem wichtig, was sich gehört und was nicht. Zum Beispiel aufs Händeschütteln legt sie ganz besonders Wert, auch bei den Enkelkindern. Meine Mutter hingegen findet, Händeschütteln sei eine Unart, bei der man sich nur unnötigerweise lebensgefährlichen Krankheitserregern aussetzt. Sie hatte es meinen Kindern eine Zeit lang sogar kategorisch verboten, damit sie gesund bleiben.
    Da war Ömi aber total entsetzt, denn sie ist der Meinung, dass Kinder, die nicht exzellente Manieren vorweisen, »später im Leben« (so nennt sie es) allerhöchstens eine Chance auf einen Job als Aushilfs-Straßenkehrer haben. Zum Glück fand sie nie heraus, warum die Kinder plötzlich nicht mehr per Handschlag grüßten – und keiner von uns setzte sie jemals ins Bild.
    Beide Damen sind zu alt, um an der 68er-Bewegung teilgenommen zu haben. Damals waren sie keine Studentinnen mehr, sondern standen schon im Berufsleben und waren auch bereits Mütter. An meiner Mutter aber ist die Studentenrevolution nicht so völlig vorbeigegangen wie an Ömi. Deswegen findet Mama die Manieren-Diskussion total überholt. Wenn Ömi davon anfängt, dann lacht sie glockenhell auf und glaubt, Ömi mache Witze. Allen Ernstes. Ja, manchmal ist es schon ganz gut, dass die beiden schlecht hören, denn dadurch bleibt ihnen viel Interpretationsraum.
    Sie haben auch Gemeinsamkeiten: Beide sind schon lange alleinstehend. Beide sind für ihre Generation recht emanzipiert und standen ihr Leben lang im Berufsleben (meine Mutter als technische Zeichnerin, Ömi als Personalchefin). Und beide sind gleichzeitig echte Familientiere. Viele Jahre waren sie für uns da und haben uns mit den Kindern geholfen, auch meiner Schwägerin mit ihrem Sohn. Sie waren nicht immer so verdreht und anstrengend, wie sie heute sind. Deswegen ist es absolut okay, dass jetzt eben wir an der Reihe sind, uns etwas mehr um sie zu kümmern. Wenn sie es uns nur ein bisschen leichter machen würden …
    Manchmal, wenn sie zusammen sind, sehen sie uns an wie Pubertierende ihren Schuldirektor. Aufmüpfig, trotzig, total gelangweilt, wie Teenies. Völlig unterschiedliche Teenies zwar, aber eben doch gleichaltrig und deshalb irgendwie auf einer Wellenlänge, zumindest was ihre Protesthaltung angeht. Hauptsache gegen uns. Die Zeit, in der Kinder gegen ihre Eltern rebellieren, ist wahrscheinlich gar nicht so viel länger als die Zeit, in der es dann andersherum läuft.
    Weil Protesthaltung gar keinen Spaß macht, wenn keiner was davon mitbekommt, lassen sie es uns aber genau wissen, wenn sie sich auflehnen. Daher die wechselseitigen Infos über Mahlzeiten, die ausgelassen, und Tabletten, die verweigert werden. So wie unlängst das Eisenpräparat.
    Manchmal habe ich das Gefühl, Ömi hat sogar diebischen Spaß daran, sich selbst zu schaden, nur um uns zu ärgern. Denn während sie Tabletten, die sie nehmen sollte, ablehnt, schluckt sie besonders gern solche, die sie eigentlich längst nicht mehr nehmen sollte, weil ihr Haltbarkeitsdatum schon vor ein paar Jahren abgelaufen ist. Und dann muss sie sich zwei Tage lang übergeben.
    »Ich hätte vielleicht doch nicht das Grippemittel nehmen sollen, das 2005 abgelaufen war«, sagt sie dann mit spitzbübischem Blick, als wäre ihr ein besonders lustiger Streich gelungen.
    »Ja,

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