Lippenstift statt Treppenlift
Freundin, die Ärztin. Aber nun lässt sich das eben nicht mehr ändern.
Schließlich hörte meine Mutter so schlecht, dass man von einer echten Beeinträchtigung im Alltag sprechen musste. Sie verstand die Verkäuferin beim Bäcker nicht mehr und die Nachbarin nicht und nicht die Ärzte und Arzthelferinnen und die Physiotherapeutin – niemanden. Nur noch mit uns konnte sie einigermaßen kommunizieren, denn wir waren ja an ihre Schwerhörigkeit gewöhnt und brüllten. Ansonsten aber sind die Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr auf Schwerhörige eingestellt – außer meiner Mutter und vielleicht noch meiner Schwiegermutter trägt ja jeder, der schlecht hört, ein Hörgerät. Selbst der hohe Preis ist kein Argument dagegen: Auch arme Leute haben Hörgeräte, denn sie sind von Zuzahlungen befreit und müssen kein Geld aufwenden, um etwas zu hören. Und wer auch mit Hörgerät nicht hört, der kommuniziert in der Gebärdensprache und kann von den Lippen ablesen. Aber das konnte Mama natürlich auch nicht.
Jedenfalls mussten meine Schwester und ich und auch meine Tochter sie irgendwann überallhin begleiten und für sie übersetzen, sprich: das Gesagte in gebrüllter Version wiedergeben.
»Schrei mich nicht so an!«, sagte Mama dann immer, und dann jammerte sie wieder: »Ach, ich höre so schlecht! Es ist so schrecklich! Warum ich?!« Schließlich wünschte ich mir allen Ernstes, ich würde selbst auch schlecht hören. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen.
Eines Tages, als wirklich kein Mensch mehr damit rechnete, gab sie freudestrahlend bekannt, dass sie sich entschlossen habe, sich ein Hörgerät anzuschaffen. Da hatte ich mit der Sache schon derart abgeschlossen, dass ich mich überhaupt nicht mehr mitfreute.
Weil die letzte Untersuchung vom HNO schon so lange zurücklag, mussten wir zuallererst natürlich dorthin. Mamas HNO untersuchte sie aufmerksam, die Praxisschwester machte noch ein paar weitere Tests, und niemand sagte etwas davon, dass Mamas Gehör nun bereits zu geschädigt sei oder Ähnliches. Kurz bevor wie gehen wollten, zog uns der HNO noch kurz zur Seite und gab uns folgende Empfehlung mit:
»Egal, was der Hörgeräteakustiker sagt: Nehmen Sie das günstige Gerät. Die Geräte, die derzeit die Kasse zahlt, sind vollkommen ausreichend, besonders für alte Leute, die ja meist nur Unterhaltungen unter vier oder sechs Augen führen. Lassen Sie sich also kein Gerät andrehen, mit dem Sie in einer Konferenzsituation mit 25 Leuten am Tisch alles verstehen können, denn das brauchen Sie gar nicht!«
Dann erklärte er das alles noch ein paar Mal lauter und noch lauter, und schließlich gingen wir. Unterwegs stoppten wir bei einem Kaufhaus, denn Mamas Wecker war kaputt. Wir kauften einen neuen Wecker, und dann gingen wir noch in ein Café, und das kam selten vor. Mama war bestens gelaunt, und ich muss zugeben: Langsam freute auch ich mich endlich auf das neue Hörgerät. Alles kam mir leicht und unbeschwert vor an jenem Tag. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was auf mich zukam.
Nach dem Besuch beim HNO dauerte es noch mal Ewigkeiten, bis Mama sich aufraffte, zum Hörgeräteakustiker zu gehen. Sie meinte, sie müsse sich jetzt erst mal vom Besuch beim Arzt erholen und darüber reflektieren, ob alles, was sie da angeleiert hatte, einen Sinn ergebe. Kurz bevor die Überweisung des Arztes ungültig wurde, zwang ich sie dann zu einem Termin.
Zum Glück gab es einen Parkplatz direkt vor dem Praxiseingang des Hörgeräteakustikers, nur leider war die Straße zur Seite hin offenbar leicht abschüssig. Beim Aussteigen fegte Mama mit der aufschwingenden Autotür beinahe einen Radfahrer um. Dann schlug sie sich noch selbst die Wagentür auf die Hand (sie versucht immer, gegen jeden Rat, die schwere Autotür zu schließen, indem sie sich zwischen Auto und Türe stellt. Das kann nicht gut gehen). Und dann waren wir auch fast schon da.
Der Hörgeräteakustiker war eine Akustikerin, hübsch, blond, zierlich und jung – das war unser Pech: Mama misstraut Werktätigen unter 55 grundsätzlich, fast so, als wären Dreißigjährige nicht viel besser als Praktikanten in ihrer ersten Praxiswoche. Die junge Frau begrüßte uns freundlich, allerdings auffallend leise – Mama musste dreimal nachfragen, was sie überhaupt meinte (ah ja – Guten Morgen!) –, und bat uns zu warten. Es gab ein kleines Wartezimmer, in dem in einer Glasvitrine Hörgeräte aus alten Zeiten ausgestellt waren, altrosafarbene
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