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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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schimpft mein Mann immer, wenn er seine Mutter nicht erreicht, weil sie mal wieder das Telefon verlegt hat, oder weil schon wieder stapelweise leere Kartons auf der schlecht beleuchteten Treppe stehen, oder weil sie schon wieder kaum was getrunken hat, oder weil sie seit acht Monaten behauptet, ihr Hörgerät sei in der Reparatur. »Noch heute bring ich sie ins Altersheim!«
    Er sagt es ständig. Aber natürlich meint er das nicht erst.
    Einmal saßen wir alle gemeinsam bei einer Familienfeier – es war ein runder Geburtstag. Ömi hatte mal wieder keinen Appetit.
    »Möchtest du nicht wenigstens ein kleines Stück von dem Braten probieren?«, fragte ich.
    »Ach, nein nein«, antwortete Ömi in ihrer typischen Art, als wäre der Gedanke, sie könne ein Stückchen Fleisch zu sich nehmen, völlig abwegig.
    »Oder ein paar von den Kartoffeln«, versuchte es mein Mann.
    Ömi lächelte und schüttelte wortlos den Kopf.
    »Nimm doch wenigstens ein bisschen was von dem Salat!« insistierte mein Mann, der sich vor Ungehaltenheit schon leicht rosa verfärbte: »Irgendwas musst du doch essen!«
    »Ach … nein, nein!«, machte Großmama nur, als mein Sohn, der eigentlich sonst ein eher schüchternes Kind ist, plötzlich herausplatzte:
    »Die Ömi, die will gar nichts, nur hier sitzen!«, posaunte er. »Die ist schon froh, wenn sie hierbleiben kann und nicht ins Altersheim muss.«
    Das hat die Ömi natürlich gehört. (Wenn’s darauf ankommt, hört sie immer.) Sie erstarrte.
    »Ach was, die Ömi braucht kein Altersheim«, sagte meine Tochter in die peinliche Stille hinein. »Die hat schon eines. Nämlich uns!«

Wer nicht hören will, muss jammern!
    E s ist an der Zeit, ein Geständnis zu machen: Es ist nicht alles genau so, wie ich es beschrieben habe, sondern ein wenig anders. Ich habe aber nicht etwa aufgeschnitten und etwas dazuerfunden oder stark übertrieben. Genau das Gegenteil ist der Fall: Ich habe etwas weggelassen, der Einfachheit halber.
    Tatsächlich war es nämlich nicht so, dass meine Mutter sich nur andauernd über ihre Schmerzen und die Kälte und die Hitze und den Verkehr und ihre Ärzte und ihre Falten beschwerte. Sie beschwerte sich auch noch über ihre Schwerhörigkeit. Sogar am allerhäufigsten über ihre Schwerhörigkeit. Sie klagte über die Schwerhörigkeit und ihre Schmerzen, die Schwerhörigkeit und die Kälte, die Schwerhörigkeit und die Hitze, die Schwerhörigkeit und den Verkehr, die Schwerhörigkeit und die Schwerhörigkeit. Ich habe das unterschlagen, um die Sache nicht zu kompliziert zu machen. Dabei war sie das aber: kompliziert und fast nicht auszuhalten.
    Besonders schlimm war die Art und Weise, wie Mama sich über ihr schlechtes Gehör beklagte: als wäre schlechtes Hören eine tödliche Krankheit. Es gibt Leute, die machen um Krebs nicht so viel Aufhebens wie meine Mutter um ihre Schwerhörigkeit.
    »Ich höre nichts!!!!!«, pflegte sie lautstark auszurufen, mit echter Hysterie in der Stimme, als wäre dieser Umstand von einem Moment auf den anderen wie ein Schock eingetreten.
    »Oh ja, ich weiß!«, konnte ich dazu nur stöhnen – schließlich hörte sie seit fünf Jahren schon schlecht.
    »Stell dir bloß vor!«, kam dann immer als Antwort, als hätte sie meine Bemerkung gar nicht gehört (was nur zu wahrscheinlich war). »Ich verstehe fast nichts von dem, was du sagst!«
    »Ja«, sagte ich entnervt. »Und wenn du jetzt auch noch die Brille absetzt, dann siehst du auch nichts mehr. Schaff dir doch endlich mal ein Hörgerät an! Dann hörst du auch wieder.«
    Doch auf diesem Ohr war sie – man kann es nicht anders sagen – taub. Und auf dem anderen auch.
    Dabei war Mama bereits in einem ganz frühen Stadium ihrer Schwerhörigkeit zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gegangen. Wie gesagt, vor fünf Jahren. Zu der Zeit musste man sie noch nicht zu jedem Arzttermin begleiten, aber wahrscheinlich wäre es auch damals schon besser gewesen – nur das wussten wir eben noch nicht.
    »Ja, es ist wahr, ich bräuchte ein Hörgerät«, sagte sie damals so nebenbei.
    »Dann solltest du dir jetzt eins machen lassen, oder?«, sagten wir.
    »Ja, das sollte ich, denn sonst degeneriert das Ohr, und das Hörgerät kann nichts mehr ausrichten. Das hat der Arzt gesagt«, erklärte sie.
    Aber sie ließ sich keines machen.
    »Mama«, mahnten wir ein ums andere Mal. »Wenn du dir nicht bald ein Hörgerät machen lässt, dann lässt sich das Gehör gar nicht mehr korrigieren. Das hat der HNO doch gesagt.«
    »Ja,

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