Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
Vom Netzwerk:
absolut richtig, das hat er gesagt. Er sagte: Es muss nicht sofort sein, aber bald sollte ich das Hörgerät machen lassen, sonst hilft es nichts mehr.«
    » UND ? Wann lässt du es denn nun endlich machen?!«, fragte ich fünf Jahre lang in regelmäßigen Abständen. Erfolglos. Es passierte nie.
    Stattdessen bildete sie sich zunehmend ein, Hörgeräte würden das Gehör nur verschlechtern. Es war eine ähnliche Logik wie die, die sie anwendete, um zu erklären, warum sie auch an eiskalten Tagen keine Kopfbedeckung trug: Wenn man einmal eine Mütze trägt, dann wird man empfindlich und möchte immer etwas auf dem Kopf tragen, wenn man die Mütze dann aber weglässt – dann holt man sich einen Schnupfen. Nur dass diese Art von Argumentation sich bei Hörgeräten nicht eignet: Man bekommt keinen Schnupfen, wenn man sie mal nicht trägt, und es ist auch nicht so, dass man durch Hörgeräte verlernt zu hören, sondern das Gegenteil ist der Fall: Das Gehör wird, wie gesagt, ohne Hörgerät schlechter. Beziehungsweise: nicht wirklich das Gehör, sondern das Gehirn. Das verliert nämlich mit der Zeit die Fähigkeit, Gehörtes zu deuten und richtig einzuordnen.
    Generell wäre es fürs Gehirn gut, wenn Mama wieder besser hören würde. Das betonte auch der Neurologe, bei dem sie wegen der Demenz in Behandlung war, regelmäßig. Allerdings vollkommen erfolglos. Wahrscheinlich war es einfach so, dass Mama Angst hatte, mit einem Hörgerät alt auszusehen. Und diese Vorstellung war wohl das Allerschlimmste für sie.
    »Du weißt schon, dass die modernen Hörgeräte winzig sind, oder? Man sieht sie quasi gar nicht«, sagte ich, als mir der Gedanke kam, dass dies mit ein Grund für die Verweigerung sein könnte. Und was sage ich: Bingo – das war’s!
    »Von wegen, so ein DING soll man nicht sehen?!«, sagte Mama. »Und wie man so ein DING sieht!« Offenbar war das letzte Hörgerät, das sie bewusst wahrgenommen hatte, seinerzeit das alte Teil vom Opa gewesen, Mamas Vater, der aber auch schon seit über 25 Jahren tot ist.
    »Schau dir doch mal eins an. Die haben sich enorm entwickelt. Wenn du willst, fahre ich dich zum Hörgeräteakustiker, und wir lassen uns mal beraten, einfach so, ganz unverbindlich.«
    Der Blick, der mich daraufhin traf, wünschte mir wieder einen Kugelblitz an den Hals – mindestens!
    Und dann bekam Ömi ihr Hörgerät. Das machte alles nur viel schlimmer. Ömi nämlich beschied kategorisch, das Gerät tauge nichts. Aus, Punkt, Basta. Und Mama schloss daraus, was sie gern daraus schließen wollte: Kein Hörgerät auf der weiten Welt tauge etwas. Mittlerweile hatte man sogar das Gefühl, sie habe regelrecht Panik, das Hörgerät könne ihr das Rest-Hören auch noch zerstören.
    »Ich habe solche Angst«, gestand sie tatsächlich manchmal, wenn ich fragte, warum sie sich in Dreiherrgottsnamen nicht endlich das vermaledeite Hörgerät machen ließ.
    »Aber wovor denn?! Hörgeräte beißen schließlich nicht!«
    »Ich habe Angst, dass ich damit erst recht nichts höre. Die Elsbeth sagt ja auch, dass diese Geräte nicht gut sind.«
    Nur dass Ömi ihr Hörgerät offenbar nur ein einziges Mal in ihrem Leben ausprobiert hatte: beim Hörgeräteakustiker. Nach dem Hörgeräteakustiker hat niemand die Ömi jemals wieder mit dem Gerät gesehen. Überhaupt hat noch niemals jemand von uns das Gerät zu Gesicht bekommen. Angeblich war es bei der Reparatur. Und zwar vom ersten Tag an.
    Außerdem war es teuer. Viele tausend Euro, sagte Ömi.
    »Das kann ich mir nicht leisten«, sagte Mama. »So viel Geld habe ich nicht.«
    »Du weißt doch noch gar nicht, was dein Hörgerät kosten würde.«
    »Tausende! Das hat die Elsbeth doch schon gesagt. Ich gebe doch nicht so viel Geld für ein Hörgerät aus, und dann habe ich gar kein Geld mehr. Und was, wenn dann mal was ist?«
    »Stimmt. Du könntest ja vielleicht schwerhörig werden. Und dann hättest du gar kein Geld mehr für ein Hörgerät«, sagte ich. Aber mit Spott kam man natürlich auch nicht weiter, da krächzte sie nur »Waahaas?« und tat, als verstünde sie noch weniger, als sie tatsächlich verstand. Sie wollte nun mal kein Hörgerät. Sie drehte den Fernseher und den CD -Player einfach lauter, und wenn sie mit Jule oder Elsbeth oder ihren anderen Telefon-Freundinnen telefonierte, drückte sie den Hörer ganz fest an ihr Ohr. Sie tat, als wäre sie gar nicht schwerhörig. Wahrscheinlich war das schlechte Hören auch ein Auslöser für die Demenz, glaubt meine

Weitere Kostenlose Bücher