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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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auftun ließ, dann landete es doch nur unter dem Tisch beim Hund.
    Irgendwann fiel auf, dass Ömi immer dünner wurde. Sie konnte es zwar geschickt kaschieren und hüllte sich immer in diverse Hüllen von Kleidung: Pullunder und Blusen und Schals und weite, schlabberige Strickjacken. Aber dann war es irgendwann nicht mehr zu übersehen. Manchmal witzelten wir, sie würde heimlich auf einer der einschlägigen Homepages mit magersüchtigen Teenagern chatten und dort um neue Tricks anfragen – aber Ömi hat gar keinen Computer.
    Jedenfalls bekam sie dann urplötzlich eine ganze Reihe von Lebensmittelunverträglichkeiten: Mal hieß es, sie könne kein Fleisch essen. Dann wieder waren es Bananen, die ihr nicht bekamen. Oder alles Obst, das Säure beinhaltet. Oder Salat (zu grün), Kohl (zu treibend), Erbsen (siehe Kohl), Milchprodukte (keine Ahnung), Kartoffeln (zu viel Stärke) und so weiter. Ständig sprach sie von einer Liste, auf der alles notiert sei, was sie essen durfte. Oder ging es um das, was sie nicht essen durfte? Das wurde nie recht klar, die Angaben widersprachen sich ständig, und besagte Liste bekam nie jemand zu Gesicht.
    »Aber was kannst du denn jetzt überhaupt noch essen?! Irgendwas muss es doch geben, was du noch verträgst?«, fragte ich eines Tages.
    Da dachte sie lange nach und antwortete: »Grießbrei. Grießbrei vertrage ich gut.«
    »Deine Mutter verlädt uns doch total, hast du das nicht gemerkt?«, fragte ich daraufhin meinen Mann.
    »Wieso, es kann doch sein, dass Grießbrei ihr bekommt. Wenigstens etwas!«
    »Aber sie verträgt doch angeblich überhaupt keine Milch!«, sagte ich.
    »Und?!«, sagte er.
    »Na, was denkst du denn, woraus Grießbrei zu 95 Prozent besteht?«
    Erst da ging ihm endlich ein Licht auf. Aber es half nichts: Ömi mochte immer noch rein gar nichts essen.
    Obwohl sie selbst kein Fleisch verzehrte, kochte und briet sie große Mengen davon für uns und konnte es nicht nachvollziehen, wenn andere Leute keines wollten. Kein Fleisch zu essen, erschien ihr offenbar als grundsätzlich verdreht – außer bei ihr selbst.
    Ungünstigerweise war mal wieder ich es, die diesbezüglich aus der Rolle fiel: Etwa ein Jahr lang mochte ich kein Fleisch. Ich hatte, eher zufällig, ein paar Bücher und Sendungen zum Thema Massentierhaltung konsumiert, und da war mir irgendwie der Appetit darauf vergangen, aber ich habe nie versucht, irgendjemanden zu missionieren oder den Kindern vorzuschreiben, im Restaurant kein Fleisch zu bestellen. Ich mochte nur einfach selbst keines essen und es auch nicht zubereiten.
    Ömi, ausgerechnet Ömi, die selbst schon länger kein Fleisch gegessen hatte, war empört. So sehr, dass sie sich noch nicht mal einen Kommentar verkneifen konnte: »Aber Linus und Andreas wollen unbedingt zweimal am Tag Fleisch auf dem Teller sehen!« Das war erfunden. Gerade Linus mag Fleisch gar nicht so. Der große Fleischfan bei uns ist Ida. Doch das passt wahrscheinlich nicht in Ömis Lebenseinstellung, laut derer es sich für Männer gehört, täglich große Fleischberge zu vertilgen, während Mädchen ruhig mal nur Gemüse knabbern dürfen.
    Allerdings nicht zum Frühstück. Da muss Wurst gegessen werden: Leberwurst und Salami und Schinken und Speck und Frischwurstaufschnitt. Beim Metzger in der Nachbarschaft strahlen sie immer schon, wenn Ömi den Laden betritt. Doch nun wusste sie gar nicht mehr, was sie mir servieren sollte.
    »Mach dir keine Sorgen, Johanna wird schon was finden, was sie essen kann«, beruhigte mein Mann Ömi am Telefon. »Sie kann sich einfach ein Marmeladenbrot streichen. Alles kein Problem!« Ömi aß selbst Marmeladenbrot zum Frühstück (wenn sie was aß).
    Für mich aber kaufte sie Käse. Ungefähr vier Sorten Käse. Das war sehr nett, aber auch merkwürdig. Oma behandelte den Käse nämlich, als hätte sie selbst noch nie etwas Derartiges gegessen oder auch nur gesehen. Schon wie sie das Wort »Käse« aussprach, war sonderbar.
    »Sieh mal, Johanna, dir habe ich extra, ähm: K-ä-s-e! gekauft.«
    Dabei war es nicht mal außergewöhnlicher Käse, nichts Spezielles aus exotisch sortierten französischen Käse-Tempeln, sondern einfach ganz normaler Emmentaler, Camembert, Tilsiter. Aber Ömi tat, als wäre Käse eine neumodische Erfindung.
    »Will sie mir weismachen, dass sie keinen Emmentaler kennt? Das kann doch nicht sein, dass deine Mutter mit 85 Jahren noch nie ein ganz stinknormales Brot mit Emmentaler darauf gegessen hat?! So was braucht sie mir

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