Lippenstift statt Treppenlift
kurzfristigere Tablettengaben.
Was Mama gut gegen Schmerzen im Bein hilft, sind außerdem Wärmflaschen. Nur gibt es leider keine mehr zu kaufen, sie sind einfach nicht mehr im Handel, sagt Mama. Werden weltweit nicht mehr hergestellt. Im Drogeriemarkt in Mamas Nachbarschaft jedenfalls waren keine mehr im Regal.
Sie sagte das nicht gleich, sondern erst, als sie rund zwei Jahre lang ohne ausgekommen war. Das heißt, nicht ganz ohne. Sie weiß sich schon noch zu helfen.
Mir war schon ein paar Mal aufgefallen, dass ständig die Plastikflasche mit dem Badezimmer-Kalkreiniger im Wohnzimmer auf dem Couchtisch stand. Aber nur unterbewusst hatte ich das irgendwie wahrgenommen. Wahrscheinlich dachte ich, meine Mutter würde wohl irgendwas saubermachen, und schenkte der Flasche keine weitere Beachtung.
Endlich kam es heraus: Der Badezimmer-Kalkreiniger war die Wärmflasche – Mama hat den leeren Putzmittelbehälter einfach immer mit warmem Wasser aufgefüllt und ihn sich, ganz kuschelig, unter die Decke gelegt!
Ich habe ihr dann gleich zwei große, hübsche, knallrote Wärmflaschen angeschafft, und dafür schloss sie mich liebevoll in die Arme und sagte, ganz gerührt: »Unglaublich! Das konntest nur du schaffen! Dabei gibt es die doch gar nicht mehr!« Manchmal ist es zum Weinen mit Mama, und das war so ein Moment.
Und manchmal ist es einfach nur zum Heulen.
Neulich zum Beispiel, da meldete sich ihre jüngere Schwester, die in Frankfurt lebt, und kündigte ihren Besuch an: Sie wollte gern ein paar Wochen bei meiner Mutter bleiben. Tante Gisi ist mittlerweile Witwe, und Mama ist ebenfalls alleinstehend, da hätten sie einander Gesellschaft leisten können.
»Ich habe ihr aber gesagt, sie kann unmöglich kommen!«
»Aber warum denn nicht?«, wunderte ich mich.
»Weil ich so krank bin. Gisi soll kommen, wenn es mir besser geht«, sagte Mama.
Das ist das Schreckliche: Schon seit Jahren denkt Mama, sie wäre furchtbar krank, und vergisst darüber das Leben. Dabei fehlt ihr eigentlich nicht viel: Sie hat keinen Krebs, keine Diabetes, nichts Unheilbares – sie hat nur die Rückenschmerzen und natürlich die Demenz, aber gerade diesbezüglich wird sich ihr Zustand kaum verbessern. Darum sollte sie Gisi lieber wiedersehen, solange sie sie noch erkennt.
»Weißt du, Mama, für dein Alter bis du doch ziemlich gesund. Und vielleicht kann Gisi in ein paar Jahren gar nicht mehr reisen. Vielleicht ist das sogar die letzte Möglichkeit, deine Schwester zu sehen, bevor ihr beide dafür zu alt seid«, sagte ich.
»Meinst du wirklich?«, sagte Mama und kaute auf ihrer Unterlippe. »Aber bei mir ist gar nicht überall aufgeräumt.«
»Bei Gisi ist auch nicht überall aufgeräumt«, behauptete ich. »Ist doch ganz egal!«
»Na gut, dann rufe ich sie noch mal an«, sagte Mama.
Sehr merkwürdig ist, dass Mama, die sich schon seit Jahrzehnten als schwer krank empfindet, ausgerechnet die Leiden, die sie tatsächlich hat, nie erwähnt: Bluthochdruck zum Beispiel. Dabei nimmt sie dagegen schon seit zwanzig Jahren Tabletten, das vielbesungene Captopril.
Aber wenn jemand (etwa in einer Klinik) sie danach fragt, ob sie Bluthochdruck hat, dann sagt sie immer: »Keineswegs. Mein Blutdruck ist immer eher zu niedrig als zu hoch, schon mein Leben lang!«
»Mama, hallo, natürlich hast du hohen Blutdruck, das musst du hier schon angeben. Deswegen nimmst du doch Captopril!«
»Das kann nicht sein: Ich messe jeden Tag, aber der Blutdruck ist nie zu hoch!«
»Ja, eben weil du doch Captopril nimmst. Und das nimmst du, weil du Bluthochdruck hast.«
»Das wüsste ich aber! Ich messe ja jeden Tag. Ich muss ja jeden Tag messen, sagt die Tremel, denn ich habe schließlich …«
»… Bluthochdruck! Deswegen musst du täglich messen! Deswegen nimmst du Captopril!«
»Hör ich zum ersten Mal! Wie kommst du nur darauf?!«, sagt meine Mutter und schickt mir einen bitterbösen Kugelblitz.
An solchen Tagen, da ist es mit ihr dann wieder nur noch zum Schreien!
Wenn Mama richtig zulangt …
E s ist nicht so, dass grundsätzlich alles schlechter wird. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, Mama geht es sogar besser. Zum Beispiel isst sie im Restaurant wieder mit Messer und Gabel, so passiert am vergangenen Samstag: Es gab Ente.
Mama war allerdings schon satt, sie hatte gerade zu Hause Wurstbrote verspeist. Jedenfalls ging Ida ganz geduldig die Speisekarte mit ihr durch, und jedes Gericht erschien der Oma als »viel zu viel – das schaffe ich nie!«.
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