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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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Sie bräuchte dringend jemanden, der immer da ist und sie zu all den Dingen anhält, die sie alleine einfach nicht tut: Tabletten nehmen (und zwar die vom Arzt verordneten und nicht irgendwelche schon seit Jahren abgelaufenen Mittel). Zum Arzt gehen. Essen. Trinken.
    Außerdem wäre Gesellschaft sicher gut. Ömi bekommt zwar viel Besuch – aber sie bräuchte jemanden, der sich richtig um sie kümmert. Aber selbstredend ist das Allerletzte, was sie möchte, dass sich jemand um sie kümmert. Eine Pflegerin jedenfalls würde sie hochkant rauswerfen, sagt sie. Deswegen wird mein Mann wohl in der nächsten Zeit weiterhin fünf Mal täglich bei ihr anrufen und fragen: »Was hast du gegessen? Was, nur ein halbes Toastbrot, den ganzen Tag? Aber wir haben doch schon vier Uhr Nachmittag! Wie, keinen Hunger? Geht das schon wieder los?!«
    Dass Ömi noch nicht verhungert ist, spricht allerdings dafür, dass ein guter Teil der Essensverweigerung pure Show ist. Wahrscheinlich (nein, ganz sicher) isst sie doch irgendwie mehr, als sie zugibt. Sie will sich nur nichts vorschreiben lassen.
    Das ist die größte Panik der alten Leute: Dass jemand kommt, der ihnen irgendwas vorschreibt, und dass sie ihre Souveränität verlieren. Dabei würden sie diese am längsten behalten, wenn sie sich wohldosiert ein wenig helfen lassen würden, damit sie fit bleiben.
    Seit dem Schock, nun ein Fall für Pflegerinnen zu sein (auch wenn es dabei nur um die Medikamenteneinnahme geht), achtet immerhin meine Mutter höllisch auf sich: Schon seit einem Jahr notiert sie jedes Glas Wasser, das sie trinkt, auf einem ihrer typischen kleinen Zettelchen, die über und über mit winzigen Bleistiftstrichen versehen sind. Weiß der Himmel, welchem Ordnungssystem dieser Papierwust folgt und wie sie sich darin zurechtfindet, aber irgendwie funktioniert die Sache, denn der Notizenstapel wächst unablässig, und Mama war bis dato nie wieder dehydriert.
    Offenbar isst sie auch wieder ausreichend. Zwar ist sie insgesamt schlanker als früher, aber sie gibt sich wohl große Mühe, keine Mahlzeiten mehr zu vergessen.
    »Aber ist dir mal aufgefallen, was sie isst?«, fragte mich einmal Lisa, meine Schwester.
    »Nö, eigentlich nicht!«
    »Jedenfalls nichts Gesundes«, sagte Lisa, die es wissen muss.
    Lisa arbeitet nicht weit von Mama entfernt in einem kleinen Yogastudio, das ihr zu zwanzig Prozent gehört. Sie sitzt dort am Empfang, außerdem macht sie Bürokram. Mittags schaut sie oft vorbei, um nach Mama zu sehen. Zum Beispiel, ob unsere Mutter auch genug zu sich nimmt.
    Mama hingegen, die sich permanent Sorgen um Lisa macht (Mama hat keine genaue Vorstellung davon, was ein Yogastudio ganz genau ist), denkt, Lisa sei die Bedürftige von ihnen beiden und käme deshalb zu ihr. Sie hat Angst, Lisa verdiene nicht genug Geld und komme, um sich bei Mama den Bauch vollzuschlagen.
    Es stimmt, dass meine Schwester mit ihrem Job nicht reich wird, hungern muss sie allerdings nicht. Mittlerweile sollte sie aber vielleicht mal ein wenig hungern, wenn sie weiterhin als Aushängeschild für das Yogazentrum fungieren will: Durch die Mittagessen mit Mama legt sie ganz schön zu.
    »Was gab’s denn heute?«, frage ich Mama manchmal am Telefon.
    »Heute habe ich schöne, knusprige Pommes frites gemacht und dazu Nürnberger Würstchen und ein paar Spiegeleier gebraten!«, sagt Mama stolz.
    »Mhm, da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen«, erwidere ich – ich weiß ja, dass Mama Ironie nicht mehr erkennt. »Hat es Lisa geschmeckt?« Lisa ist Vegetarierin, und zwar nicht nur vorübergehend wie ich, sondern dauerhaft, und das schon seit ihrer Jugend. Aber Mama hat das irgendwie immer noch nicht realisiert.
    »Die hat ganz schön viel Pommes frites gegessen«, sagt meine Mutter. »Wahrscheinlich hatte sie mal wieder seit Tagen nichts Richtiges im Bauch!«
    Beim nächsten Mal hatten Mama und Lisa zu Mittag wieder Pommes mit Eiern und Würstchen.
    Und dann, zwei Tage später – Überraschung – erneut. Und tags darauf wieder!
    Manchmal, wenn Lisa es gar nicht mehr aushält, geht sie selbst einkaufen und kocht bei Mama in der Küche: gesunde und vitaminreiche Kost. Mama besteht allerdings darauf, sich niemals von Lisa einladen zu lassen, sondern ihr die Kosten für die Lebensmittel zu erstatten, und dann beschwert sie sich, dass Lisa (die Discounter hasst) viel zu viel Geld für Lebensmittel ausgibt.
    Das ist für meine Schwester wahrscheinlich noch nerviger. Deswegen lässt es Lisa

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