Lippenstift statt Treppenlift
nicht zu erzählen!«, echauffierte ich mich nach dem Besuch ein wenig.
»Ach, lass gut sein!«, sagte mein Mann. »Wenn ich bei Ömi schon wegen so einer Kleinigkeit ausflippen würde, dann wäre ich längst durchgedreht!« Und da hat er natürlich recht.
Weil Ömi viel zu wenig isst, ruft er sie neuerdings täglich ungefähr fünf Mal an und fragt, ob sie etwas gegessen hat.
»Ja, ja!«, sagte Ömi zu Anfang.
»Jetzt lass mich doch mal in Frieden!«, sagte sie nach einigen Tagen.
»Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen!!!«, schnauzte sie schließlich. Das war, als sie jede vornehme Zurückhaltung aufgegeben hatte und wirklich, wirklich entnervt war.
Das vormals sehr gute Verhältnis zwischen den beiden hat nämlich durch das Problem von Ömis Nahrungsverweigerung ziemlich gelitten. »Aber was soll ich machen?«, sagte mein Mann. »Ich kann sie doch nicht verhungern lassen!«
Zweimal die Woche fährt er höchstpersönlich hin (einmal davon übernachtet er auch dort), um zu kontrollieren, was sie isst. Er sieht sogar im Hausmüll nach und zählt die leeren Jogurtbecher ab.
»Es ist nicht so, dass sie gar nichts essen würde. Sie nimmt schon etwas zu sich, aber eben zu wenig«, sagt er. Und am allerwenigsten will sie sich vorschreiben lassen, wann sie zu essen hat.
»Ich esse, wenn ich Appetit habe! Ich bin doch kein kleines Kind!«, sagt sie. Und das ist genau der Knackpunkt: Manche alten Leute haben eben kaum Appetit. Deswegen sollten sie gut auf sich achten, oder aber andere müssen auf sie achten.
»Wenn man dabeisitzt, isst sie noch am ehesten«, berichtet mein Mann. Er kocht für sie Leberspätzlesuppe, Spaghetti mit Sauce oder Wiener mit Kartoffelsalat. Hausmannskost. Wenn er dabeisitzt, dann leert sich der Teller (jedenfalls, wenn er nicht allzu voll gewesen ist).
Mein Mann ist kein großer Koch, aber er gibt sein Bestes, um seine Mutter aufzupäppeln: Er macht gekaufte Lasagne im Ofen warm. Einmal bereitete er einen Thunfischsalat zu.
Der immerhin kam gut an. Seither gehört Thunfischsalat zu ihren Leibspeisen.
»Kannst du dir vorstellen, dass sie noch nie Thunfisch gegessen hatte?«, wunderte sich mein Mann. »Das kannte sie gar nicht!« Ja, ich konnte mir das schon vorstellen – Thunfisch war schließlich noch um einiges exotischer als Käse.
Trotz aller Maßnahmen: Ömi wird immer zarter und durchsichtiger. Und ausgetrockneter. Sie trinkt nämlich auch zu wenig. Bei jedem Besuch drücken wir ihr als Allererstes ein großes Glas Wasser in die Hand. Das hält sie dann krampfhaft in den Händen und fixiert uns über den Rand hinweg mit ihrem bösesten Blick.
»Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ich das trinke!«, sagt sie dann.
»Oh doch. Ich bleibe jetzt genau hier stehen und warte ab, bis das Glas leer ist!«, antwortet dann mein Mann.
»Na, viel Vergnügen. Da kannst du lange warten«, kontert Ömi.
»Gar nicht. Du trinkst das Glas nämlich jetzt aus, und zwar am besten in einem Zug!«
»Du kannst mir mal den Buckel runterrutschen!«
Und so weiter und so fort.
Weil sie nichts trinken will, malen die Kinder ihr solche Schilder wie die, die sie für meine Mutter angefertigt haben. Nur dass auf den Schildern für Ömi »Trinken, Trinken, Trinken« steht. Aber genauso wie bei Oma werden auch bei Ömi die mahnenden Schilder umgehend weggeräumt, wenn wir ihr den Rücken zukehren.
Wenig essen sei gar nicht so schlimm, wenig trinken aber regelrecht gefährlich, sagt Ömis Arzt, deshalb muss sie jetzt zweimal wöchentlich zur Infusion, dienstags und freitags. Die Ömi ist aber derart vielbeschäftigt, dass sie den Freitagstermin noch kein einziges Mal wahrnehmen konnte.
»Leider!«, flötet sie mit falschem Bedauern in der Stimme. »Da musste ich absagen – das hätte ich beim besten Willen nicht geschafft!« Wahrscheinlich war sie zu Hause so beschäftigt damit, nicht zu trinken und nicht zu essen, dass sie das Haus nicht verlassen konnte.
Auch der Dienstagstermin fällt oft aus. Einmal zum Beispiel hatte Ömi leichte Halsschmerzen. Da machte sie sich extra zurecht und ging den ganzen Weg bis zur Arztpraxis, um dort Bescheid zu sagen, dass sie wegen Halsschmerzen nicht könne.
Ein andermal rief sie an und sagte ab, weil es so heiß draußen war. Dabei wäre Hitze erst recht ein Grund, der für die Infusion sprechen würde.
»Ich frage mich oft, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, alleine zu leben«, sagt mein Mann oft.
Tja, gute Frage. Ich persönlich finde nicht.
Weitere Kostenlose Bücher