Lippenstift statt Treppenlift
Manieren-Polizei. Offenbar stammt sie in direkter Linie vom Knigge-Klan ab. Es ist sicher keine Übertreibung, wenn ich sage, dass Manieren für Ömi das Allerwichtigste auf der Welt sind.
Zum Glück schaute sie nicht auf Mama, denn sie hatte gerade Linus im Visier. Linus’ Tischmanieren sind so lala. Manchmal denkt er daran, sich den Mund mit der Serviette statt mit dem Handrücken abzuwischen. Immerhin haben wir ihm mit Mühe und Not und unter Androhung von Höchststrafen das Aufstoßen abgewöhnen können. Ömi ist allerdings derart in Linus vernarrt, dass sie ihn durch eine rosafarbene Brille sieht: Alles, was dieser Junge tut, findet sie großartig.
»Heute wieder wie ein kleiner Gentleman«, himmelte sie ihn an. »So ist es recht!«
Mama versuchte mittlerweile zum dritten Mal, ein und dasselbe Fleischstück auf die Gabel zu spießen, doch kurz vor ihrem Mund löste es sich jedes Mal und plumpste zurück ins Zaziki. Offenbar konnte meine Mutter mit ihren aufgestützten Armen keinen so guten Hebel ausüben und die Gabel nicht tief genug ins Fleisch bohren. Da ließ sie es kurzerhand bleiben und packte ein ziemlich großes Stück Lammkotelett elegant mit zwei spitzen Fingern. Dicke Tropfen weißer Joghurtsauce klatschten zurück auf den Teller, als sie es zum Mund führte.
Wahrscheinlich trügt meine Erinnerung, denn es war viel zu laut im Restaurant, um das Tropfen der Sauce zu vernehmen, aber im Nachhinein kommt es mir vor, als wäre es ein unüberhörbares Geräusch gewesen: Platsch! Platsch! Platsch! Das Gespräch am Tisch war verstummt. Wie gebannt starrten wir alle auf Mama, die nun den Knochen abnagte, und keiner von uns wagte, ein Wort zu sagen oder sich auch nur zu räuspern, damit Ömi nichts merkte. Aber die war zum Glück immer noch damit beschäftigt, ihren Enkelsohn anzuhimmeln. Und dann wurde ihr auf einmal schlecht, und sie wollte ganz schnell an die Luft: das Hackfleisch! Deshalb ist Mama bei jenem Essen sozusagen noch einmal davongekommen und genießt nach wie vor Ömis Freundschaft und Respekt.
Vielleicht hat Ömi es doch gesehen, aber irgendwie umgedeutet – so, wie sie aus unerfindlichen Gründen immer denkt, Linus hätte tolle Manieren. Gleichzeitig glaubt sie, Moritz, Linus’ Cousin, hätte entsetzliche Manieren, was ebenso unbegründet ist. Allerdings ist es sicher nicht so, dass sie Moritz deshalb weniger mag: Sie vergöttert ihn ebenfalls. Trotzdem glaubt sie felsenfest, der eine Junge wäre ein kleiner Herr und der andere ein junger Rüpel. Und sie war schon dieser Meinung, als beide Jungs noch so winzig waren, dass sie gerade erst anfingen, alleine zu essen. Damals allerdings war Moritz etwas hinterher, ganz einfach, weil er sechs Monate jünger ist als Linus. Vielleicht ist das der Grund für Ömis Vorurteil: Wenn sie sich über irgendetwas eine Meinung bildet, dann bleibt sie dabei – komme, was da wolle.
Mitunter treibt Ömis Manieren-Fimmel die sonderbarsten Blüten. Zum Beispiel hält Omi es für unfein, wenn beim Essen Flaschen auf dem Tisch stehen. Ich selbst bin mir gar nicht sicher, ob das tatsächlich gegen die Etikette verstößt, aber in Ömis Haushalt gilt es als unumstößliches Gesetz. Allerdings ist es nicht etwa so, dass meine Schwiegermutter überall neben dem Esstisch Weinkühler oder Serviertischchen für die Flaschen stehen hat. Es ist bei ihr dagegen üblich, angebrochene Flaschen grundsätzlich nebenan in der Küche zu verwahren. Und so kommt es permanent vor, dass bei einem Familienessen eine, zwei oder sogar drei Personen gleichzeitig aufstehen, um Wasser- oder Saftflaschen zum Nachschenken zu holen. Für mich persönlich sieht das nicht so sehr nach guten Manieren aus. Aber egal: ICH gehöre ja bei uns nicht zur Manieren-Polizei und mische mich lieber gar nicht erst ein.
Vielleicht hat Ömi ihre merkwürdigen Benimm-Regeln aber auch nur erfunden, um zu kaschieren, dass sie nicht so gern isst: Wenn wir dauernd in die Küche unterwegs sind, können wir nicht so gut beobachten, was am Tisch auf Ömis Teller geschieht. Nämlich gar nichts. Ihr Teller bleibt blank.
Lange Jahre war das eigentlich kein Problem, denn Ömi behauptete immer, sie würde durch ihr frühes Aufstehen eben auch früher Hunger bekommen und früher essen. Wahrscheinlich war es damals auch so.
»Isst du nicht mit?«, fragten wir zwar immer, aber es war eher eine rhetorische Frage.
»Ihr wisst ja …« sagte sie dann nur, und wir nickten bloß. Wenn sie sich tatsächlich etwas
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