Lippenstift statt Treppenlift
meistens gut sein und stopft sich einfach einen Teller Pommes rein, um ihre Ruhe zu haben.
Dass Mama so isst, wie sie isst, ist auch Teil der Krankheit: Sie ernährt sich von typischer Demenz-Kost. Irgendwie vergessen die alten Leute ein wenig ihren Geschmackssinn und nehmen nur Dinge mit unüberschmeckbarem Aroma zu sich: derb und fettig.
Auf der anderen Seite ist Mama ganz stolz, dass sie noch selbst für sich kocht und keine Hilfe braucht, da wollen wir sie nicht bevormunden. Nur für die arme Lisa ist das mittlerweile schon ein kleines Problem, besonders um die Taille herum.
Als Ausgleich zu der fetten, vitaminarmen Kost bringen Lisa und ich oft Obst vorbei. Früher liebte unsere Mutter Obst. Heute liegen die meisten Früchte so lange im Obstkorb, bis sie vergammeln: Äpfel und Birnen sind Mama plötzlich grundsätzlich zu hart. Demente Menschen mögen gern weiche, gut kaubare Dinge.
Erdbeeren kamen aber auch nicht gut an: Mama tat so, als hätte sie noch nie welche gesehen, und das, obwohl sie kurz vor mir in ein und demselben Supermarkt gewesen war, aus dem ich ihr ein Pfund mitbrachte. Aber nach einem kurzen Überraschungseffekt war das Mitbringsel kein Erfolg: Mama kaute ziemlich lustlos auf den Erdbeeren herum und fand sie zu sauer.
Mittlerweile hat sie ihre eigene neue Lieblingssorte Obst entdeckt: Bananen. Jeden Tag mehrere Bananen. Schaden kann’s nicht.
Zum Frühstück gibt es auch immer und immer das Gleiche: abgepackten Sandkuchen. Und zwar nur vom Billighersteller. Der schmeckt viel, viel besser, sagt sie. Meine Mutter ist nämlich der Meinung, teurere Dinge sind grundsätzlich schlechter. Kostet etwas ein paar Cent mehr, dann glaubt sie keine Sekunde lang, das läge an der besseren Qualität und an den hochwertigeren Zutaten, sondern sie denkt sofort: Betrug! Dagegen hat sie unbedingtes Vertrauen in alles, was absolut billig ist, das ist für sie das Kaufargument per se.
Aber das ist noch mal ein ganz anderes Thema. Mehr davon später im Kapitel »Rentenbezüge«.
Abschied von Papa
I ch kann mich nicht mehr genau erinnern, wann ich von Papas Krebserkrankung erfuhr. Nicht mehr an den Tag, nicht an die Stunde und nicht daran, was ich davor oder danach getan habe. Nur an die Jahreszeit: Es war im Winter 2009, am Telefon. Alles andere verschwimmt im Nebel.
Natürlich war die Nachricht ein Schock, aber sonderbarerweise keine Überraschung: Sie war nur die Konkretisierung einer Ahnung, das Wahrwerden einer Sorge. Schon länger gab es schlechte Blutwerte, über die Papa allerdings nie Konkretes verriet (zur Beunruhigung reichte es allemal). Dann der rätselhafte Verlust des Geschmackssinns und ein rapider Gewichtsverlust. Und schließlich die Gewissheit: daher also!
Lungenkrebs, das ist ein Leiden, von dem es keine Heilung gibt. Insgeheim hofft man natürlich trotzdem darauf, gegen jede Vernunft. Man weiß: Das geht nicht gut aus. Aber man denkt: Vielleicht ist ja trotzdem noch ganz viel Zeit. Vielleicht sogar so viel, dass der Erkrankte noch ein einigermaßen hohes Alter erreicht. Man denkt: Vielleicht halten die Medikamente den Krebs ewig in Schach. Und vielleicht ist der Tumor gar nicht besonders aggressiv oder ganz einfach zu operieren.
Um es vorwegzunehmen: Genau so war es nicht. Das Geschwür war nicht operabel, der Krebs war sehr kleinzellig, also äußerst aggressiv. Und tatsächlich blieb Papa nur noch wenig Zeit.
»Bis 78 wollte ich grundsätzlich eigentlich schon durchhalten«, sagte er in seiner pragmatischen Art an jenem Tag, als er die schlechte Nachricht überbrachte, am Telefon. 78 Jahre – das ist das Lebensalter, das Männer in Deutschland im Durchschnitt erreichen. In jenem Winter war Papa 75, es war noch vor seinem 76. Geburtstag im April.
»Ach was, du schaffst es ganz sicher noch viele Jahre mehr«, sagte ich und versuchte, irgendwie souverän zu klingen. »Krebs ist doch heute für die Medizin kein Problem mehr!«
»Ich mache jedenfalls alles mit, was die Ärzte verlangen«, sagte Papa, und das bedeutete von seiner Seite aus ganz schön viel. Papa hatte davor kaum etwas getan, was Ärzte verlangen.
Wenn ich an die Zeit, die dann folgte, zurückdenke, fallen mir zuallererst zwei Ereignisse ein, und zwar die beiden schlimmsten. Beim zweitschlimmsten war Papa schon seit gut sechs Monaten tot. Wir verbrachten Pfingsten in Kroatien, mein Mann, die Kinder und ich, eine Woche Kurzurlaub mit Freunden in einem kleinen Fischerort im Süden der istrischen Halbinsel. Während
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