Lipstick
ich es schon seit mindestens fünf Jahren satt hatte, aufetwas antworten zu müssen, das mir femer als fern lag, sagte ich einfach: »Schmink es dir ab.«
Ich klopfte Hans auf seine magere Sweatshirtschulter und machte mich, ohne dabei so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu verspüren, auf den Weg nach Hause.
Am übernächsten Tag saß ich in aller Herrgottsfrühe im ICE nach München. Ich ließ Bäume vorüberfliegen und Häuser und unbekannte Landschaften, und eine Herbstsonne kriegte ich ab und zu auch zu Gesicht.
Alles ganz locker angehen. In diesem Fall hatte ich sie wirklich, die Gelassenheit einer Kuh beim Weiden. Ich trank säuerlich-bitteren Kaffee im Bordtreff und überlegte, ob es vielleicht effektvoll wäre, die Füße auf den Tisch zu legen, in der Nase zu bohren, mich an imaginären Eiern zu kratzen und gleich zu behaupten, daß ich die Größte sei. So lief das Geschäft doch. Hatte ich zumindest gehört.
Die Menschen in meinem Abteil waren allesamt derart langweilig, daß mir nichts anderes übrigblieb, als immerzu an Jan zu denken, worüber ich mich gleichzeitig zu Tode ärgerte. Warum entließ ich diesen Mann nicht einfach aus meinem Gedächtnis? Schließlich lag es doch in meiner Macht, ihm die Kündigung zu erteilen, ihn für alle Zeiten abzuservieren.
Und dann beging ich schon wieder eine Dummheit. Die dritte innerhalb von drei Tagen. Ich arbeitete mich wacker und Wagen für Wagen durch den ganzen Zug bis nach vorn in die erste Klasse und steckte meine Telefonkarte in den Schlitz des Bordtelefons.
Bereits ein paar Sekunden später war er dran. Jan hörte sich völlig fremd an. Erst als es schmerzte, merkte ich, wie sehr ich meinen Nagel in die Daumenkuppe gebohrt hatte.
»Wer ist da?« wiederholte er. Unmöglich, daß das seine Stimme war.
»Ich bin’s! Katja!« Bestimmt klang es kläglich und durch die schlechte Funkverbindung obendrein stakkatohaft unterbrochen.
Einen Moment lang war es still; es gab nur das laute Pochen inmeinen Schläfen und das Rauschen des Zuges. Dann sagte Jan plötzlich mit der wohl akzentuierten Stimme eines Radiosprechers: »Ich möchte mit dir Sex machen. Am besten jetzt gleich. Ich ziehe dich aus, ich lecke dich, und wenn du zu stöhnen anfängst, komme ich in dich rein … Katja?«
»Ja?« Meine Beine zitterten.
»Ich meine es ernst. Ich will dir jetzt keine Liebeserklärung machen, aber eigentlich ist es das, was ich am dringendsten tun sollte.«
»Was soll das?« fauchte ich los. »Und warum sagst du mir das jetzt hier am Telefon? Warum rufst du nicht an, warum läßt du mich wie eine Idiotin hängen, und im übrigen: Wieso verschwindest du nicht einfach aus meinem Leben?«
Die Einheiten rasten nur so durch, mit jedem Meter Bahnstrecke verlor meine Telefonkarte an Wert, irgendwann würde es piep machen, und unsere Verbindung wäre gekappt. Nach und nach drohten meine Beine durch den Boden des Zuges zu brechen. Keine Ahnung, warum ich das eben gesagt hatte, denn schließlich hatte ja ich ihn angerufen. Möglich, daß irgendwo jenseits der Schamgrenze eine Entscheidung gefallen war: Ich wollte ihn, egal, was kommen würde, er war für mich so etwas wie ein Grundnahrungsmittel geworden, eine Kartoffel von mir aus, Hauptsache, er würde sich mir nicht entziehen.
»Wo bist du jetzt? Wann können wir uns sehen?« Jan hatte meine Schimpftirade einfach überhört.
»Ich bin auf dem Weg nach München«, sagte ich völlig kraftlos.
»Komme morgen zurück.«
»Und wenn wir uns heute abend in München treffen?«
»Du bist verrückt.«
»Verrückt nach dir.«
Meine Beine schienen sich wieder zu beruhigen, und auch in meinen Schläfen ging es gemächlicher zu. »Von mir aus. Wann und wo?«
»Um acht im ›Stadtcafé‹?«
»Um acht im ›Stadtcafé‹.«
Ich kam mir vor, als spielte ich nur in einer schlechten Soap mit.
Heute abend würden wir uns wiedersehen. Verdammt noch mal – was hatte er nur aus mir gemacht?
Als ich später im Taxi saß und zum Filmgelände fuhr, fand ich alles noch absurder. Das Vorstellungsgespräch war doch eine Farce; mittlerweile kam es mir so vor, als sei ich eigentlich nur nach München gereist, um Jan zu treffen. Und fortan kreisten all meine weiteren Gedanken darum, ob Jan auch Kondome dabei haben würde oder ob ich es noch vor Geschäftschluß schaffte, in eine Apotheke zu gehen … Ich war derart durcheinander, daß mir einfach nicht einfiel, daß es die Dinger ja in nahezu jeder öffentlichen Toilette gab, mein
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