Lipstick
Letzt noch ein eng geschnittenes Sakko von einem mir unbekannten Japaner, das auch nicht gerade billig war.
Fünf Uhr. Das machte genau drei Stunden bis zu meiner Verabredung. Ich mußte Annika, eine ehemalige Klassenkameradin, anrufen, bei der ich eigentlich zu übernachten gedachte, Kondome besorgen …
Ich zahlte – das Kleid behielt ich gleich an – und ging in die nächste Telefonzelle auf dem Marienplatz. Zum Glück war Annika noch in ihrem Steuerbüro und sowieso unabkömmlich, um neun sei sie spätestens zu Hause, oder ob ich so gegen sieben noch einmal anrufen würde, dann könne man vielleicht gemeinsam etwas essen gehen … Ich wüßte noch nicht, unterbrach ich sie, eventuell würde mich die Serien-Crew einladen. Ach so! Sie war zutiefst beeindruckt.
Annika stand mir zwar nicht so nahe, daß ich ein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, trotzdem mochte ich nicht zugeben, daß gerade mein völlig durchgeknallter Lover im Anmarsch war und ich erst mal schauen wollte, wie sich die Sache so entwikkelte.
Ich würde sie wieder anrufen, versprach ich. Dann legte ich auf, und als ich nach draußen trat und quer über den MarienplatzRichtung Viktualienmarkt marschierte, merkte ich erst, wie erotisch mein neues Kleid bei jedem Schritt raschelte.
Das »Stadtcafé« verdiente nicht das Attribut erotisch, das merkte ich gleich beim Reinkommen. Die Größe des Raumes verschluckte alles Intime, das gedämpfte Gemurmel und das Summen der Wände, während andere Laute wie grelles Lachen oder lautstarkes Reden wie durch ein Megaphon verstärkt wurden und einen von allen Seiten bombardierten.
Wollte ich hier drei Stunden lang herumhängen und warten? Nein, ich wollte nicht. Also kehrte ich zurück zum Marienplatz, wo ich bei »Hugendubel« ein paar Bücher – zwei Krimis und einen Japan-Reiseführer – erstand. Mittlerweile hatte es zu regnen angefangen, ein unangenehmer naßkalter Sprühregen, der einem dann und wann, durch eine kräftige Bö angetrieben, ins Gesicht peitschte.
Als ich das »Stadtcafé« ein zweites Mal betrat und mir gerade ein nettes Plätzchen suchen wollte, packte mich jemand am Ärmel: Es war Jan.
Er hatte kurzerhand umdisponiert und gleich den nächsten Flieger genommen. Das sagte er mir, während er sich mit seinem mir vertrauten Schmeichler-Lächeln auf den Lippen vorbeugte und mir einen weichen Kuß auf den Mund drückte. Nun gut. Besser, er kam zu früh als zu spät. Auch wenn es vielleicht ein wenig übertrieben war, sich sofort ins nächste Flugzeug zu stürzen. Während ich uns zwischen Stuhl- und Tischbeinen und nach Nässe riechenden Jacken hindurch einen Weg zu einem freien Ecktisch bahnte, überlegte ich, ob ich eigentlich noch Grund hatte, ihm böse zu sein.
»Ich freue mich«, murmelte Jan an meinem Nacken und ließ meine Hand nicht mehr los.
Noch ein Pluspunkt für ihn. Ich hätte gewettet, er würde mich mit »Freust du dich?« oder »Du freust dich doch?« begrüßen.
Wir setzten uns; Jan hielt immer noch meine Hand fest.
»Was fangen wir jetzt mit dem Abend an?«
Ich zuckte die Schultern. Unsicher wie ein Schulmädchen.
»Wo bist du einquartiert?«
»Bei einer Freundin.«
»Willst du dort schlafen?«
»Nicht unbedingt.«
»Dann bleiben nur zwei Möglichkeiten.«
»Zwei?«
»Ja.« Jan lächelte aus schmalen Schlitzen. »Hotel oder … rat mal.«
»Wir schlafen auf einer Parkbank.« Obwohl ich nicht zum Scherzen aufgelegt war, spielte ich sein Spiel mit.
»Nein!« Jetzt lachte Jan laut auf, sagte aber nichts weiter. Er fand es wohl lustig, mich auf die Folter zu spannen.
»Also?«
»Wir könnten noch heute im Nachtzug zurückfahren.«
»Großartige Idee«, erwiderte ich ironisch. »Das stelle ich mir sehr romantisch vor.«
»Ist es auch.« Er senkte den Kopf. In der Cafébeleuchtung sah er bleich aus, nur seine Augenbrauen zeichneten sich dunkel und in einem schmalen, fast femininen Schwung auf seinem Gesicht ab.
War er etwa enttäuscht, daß ich seinen Vorschlag einfach so abgetan hatte, daß ich nicht die Abenteurerin war, die er vielleicht in mir sehen wollte?
Jan blätterte hektisch in der Getränkekarte herum; ich machte derweil Nägel mit Köpfen und bestellte einfach eine Flasche Prosecco.
»Es wird ziemlich anstrengend, wenn wir jetzt auf Hotelsuche gehen. Hast du schon mal was vom Oktoberfest gehört?«
Ich hatte. Und ich hatte überdies einen Haufen Fragen. Eine von ihnen lautete zum Beispiel, ob er mich irgendwann mal wieder angerufen
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