Lipstick
diktiert hat, wieso warst du nur so naiv! Ein Mann, der zu Hause eine Familie, inklusive behindertem Kind, sitzen hat, und du hast euch zu so etwas wie Romeo und Julia verklärt, hast geglaubt, ihr wärt die beiden einzigen Wesen auf der Welt mit eurer Leidenschaft und eurem Sex, und wenn das Flugzeug in der Mitte entzweigebrochen wäre, wärt ihr die ersten und vermutlich einzigen Menschen gewesen, die sich gleich im Himmel ein kuscheliges Plätzchen gesucht hätten.
Ich schaute Jan von der Seite an. Er beugte sich über sein Alu-Gericht, das einen widerlichen Geruch von gekochtem Schweinefleisch ausströmte. Wie konnte er nur etwas essen? Ich trank bloß ein Glas Wein, es war das einzige, was halbwegs durch meine Kehle rutschte. Einfacher Rotwein, Jan drehte jetzt kurz den Kopf, lächelte, bevor er sich wieder seinem vermutlich sehr zähen Schweinefleisch zuwandte. Mit jedem seiner Bissen kamen wir Hamburg näher, und die Vorstellung von dem, was mich dort erwartete, war nicht gerade berauschend. Ich hatte nämlich in der Ekstase der letzten Tage ganz vergessen, daß es einen Tom gab, mit dem ich die Wohnung teilte, daß Kassetten auf meinem Schreibtisch lagen, die darauf warteten, synchronisiert zu werden, Wäsche mußte gewaschen werden, Pickel würden wieder sprießen, dann die Beerdigung … ach!
»Warum ißt du nichts?« fragte Jan. Seine Stimme kam mir so anders vor als noch vor zwei Stunden. Tiefer und härter, um nicht zu sagen gefühlloser. »Du solltest was essen, das wird dir guttun.«
»Ich weiß selbst, was mir guttut.«
»Du hast abgenommen.«
»Kein Wunder …«
Ich versuchte ein Lächeln, aber gleichzeitig wurde mir schlagartig bewußt, daß sich jetzt in der Tat alles ändern würde, und ich fragte mich, ob das nicht vielleicht schon der Anfang vom Ende war.
Wir hatten kaum miteinander geredet und uns auch nicht angefaßt, und als wir mit unserem Gepäck den Zoll passiert hatten und in ein schmuddelig-kaltes Hamburg tauchten, sah Jan mich wieder mit der gleichen Zärtlichkeit wie beim letzten Mal im Bett an.
»Gehen wir noch einen Kaffee trinken?«
Ich nickte und spürte plötzlich einen bescheuerten Tränenkloß in meinem Hals. Bloß nicht sentimental werden, hatte ich mir einmal zur Maxime gemacht, aber heute ließ sie sich einfach nicht in die Tat umsetzen. Je mehr ich mich darauf versteifte, mich ganz normal zu verhalten, desto mehr schwoll der Kloß in meinem Hals an. Aber das wollte ich Jan nicht gönnen: vor seinen Augen in Tränen auszubrechen.
Ich schlug das »Rialto« vor. Jan lächelte.
»Wir müssen unsere Ansprüche jetzt wohl wieder zurückschrauben«, meinte er, und mir war nicht klar, ob er damit die Qualität der Cafés oder die Art unserer Beziehung meinte.
Wir waren fast die einzigen Gäste, und in gewohnter Manier orderten wir Cappuccino und Wasser. Obwohl ich eigentlich keinen Grund dazu hatte, konnte ich auf einmal wieder richtig durchatmen. Vielleicht, weil die Cappuccinomaschine Geräusche machte, die mir vertraut waren. Vielleicht, weil Hamburg doch alle Qualitäten einer Lieblingsstadt hatte und der Ausflug in die fremde Metropole zum Glück das geblieben war, was er zu sein hatte: ein Abstecher ins Abenteuer.
»Du solltest ein Kind haben«, sagte Jan unvermittelt und fuhr sich durch seine am Hinterkopf leicht verstrubbelten Haare.
»Was?«
»Du solltest ein Kind haben!« wiederholte er.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte ich aggressiv. Ich fand es absurd, mir ausgerechnet in diesem Moment eine derartige Schnapsidee anhören zu müssen.
»Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Es gibt solche Frauen und andere …«
»Und ich finde, du redest ziemlich antiquiertes Zeug daher.« Ich hob die Tasse an, tastete mich mit den Lippen bis zur Schaumkrone vor und leckte dann ein wenig von dem Kakaopulver ab.
»Nein.« Jan sah jetzt vollkommen ernst aus. »Ich hätte es dir nie gesagt, wenn ich mir nicht so sicher wäre. Greta zum Beispiel. Sie hat ein Kind. Aber bei ihr ist es etwas völlig anderes.«
»Inwiefern?« Ich merkte, wie meine Stimme eine schrille Färbung bekam. »Meinst du etwa, sie ist keine gute Mutter?«
»Doch, sicher. Es ist nur … Du bist eben was Besonderes …« Jan stockte, schlug sich leicht auf den Mund und lachte verlegen.
»Mein Gott, ich weiß, es hört sich verdammt abgedroschen und auch kitschig an, aber ich kann es nun mal nicht besser beschreiben!«
»Dann laß es doch ganz bleiben!« wehrte ich ab und trank so hastig,
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