Lipstick
hätte.
»Natürlich.« Jan verschränkte seine Hände ineinander, spielte dabei mit dem kupfernen Ring am kleinen Finger. Es war mir bisher nicht aufgefallen, daß er Schmuck trug. »Wir hatten soviel mit Timmi zu tun. Erst war er krank, Fieber, du weißt schon, dann die Sache mit dem neuen Kindergarten …«
»Verstehe.« Ich bemühte mich, weder beleidigt auszusehen, noch beleidigt zu klingen, was äußerst schwierig war, weil ich die ganze Zeit über dachte, einen Anruf, einen einzigen mickrigen Anruf hättest du ja wohl zustande bringen können!
Der Prosecco kam – mit Kübel und allem Drum und Dran. Wir tranken synchron und in hastigen, kleinen Schlucken, und je mehr von der kühlen Flüssigkeit durch meine Speiseröhre rann, desto wohler fühlte ich mich. Die Welt war prima, juhu! Probleme waren doch nur für Leute da, die sich gern freiwillig welche machten.
Jan bewunderte mein neues Kleid, meine alten langen Wimpern, meine weichen Hände, meinen Blick, der gerade so und nicht anders war, und ich schaute diesen Mann an und versuchte zu begreifen, was er eigentlich so Besonderes an sich hatte.
Da mir das nicht gelang, berichtete ich von meinem Vorstellungsgespräch. Ich erzählte von Schäfern und deren Animositäten gegenüber norddeutschen Schafen und daß ich manchmal überhaupt nicht wußte, warum ich mir bestimmte Dinge im Leben antat.
»Ich meine, wie geht’s dir denn mit deinen orthopädischen Einlagen? Hast du nie so ein Gefühl, das, was du tust, könnte idiotisch sein?«
»Nein. Warum? Ich helfe Menschen, die sonst Probleme mit dem Laufen hätten.«
»Aber ist es nicht auch öde?«
»Es ist ein Geschäft.«
Jan schenkte uns Prosecco nach, und die Zackigkeit, mit der er es tat, machte mir plötzlich klar, daß er in mancherlei Hinsicht doch wie viele andere Männer war die ich kannte – selbstbewußt und über jeden Zweifel erhaben. »Möchtest du etwas essen?«
Jan fragte es fast anzüglich lächelnd. Augenblicklich bemerkte ich ein riesiges Hungerloch in meinem Magen.
Im Taxi fuhren wir zum Hauptbahnhof, erkundigten uns nach dem Nachtzug, nahmen dann – nachdem ich Annika telefonisch abgesagt hatte – den nächsten Wagen zur Giselastraße. Ich kanntehier von früher einen Griechen, der ein bißchen studentisch, ein bißchen chic und unverschämt gut war.
Wir bestellten gemischte Vorspeisen, Fisch, Wachteln und Gemüse, dazu Rotwein, der mich fast dazu brachte, jetzt und an diesem Tisch über Jan herzufallen.
»Wir müssen einen Lebensplan erstellen«, sagte ich, schon nicht mehr ganz Chefin über meine Zunge.
»Lebensplan?« Jan kicherte.
»Ich meine das ernst«, sagte ich mit Lachtränen in den Augen. Ohne die Wirkung des Alkohols hätte ich vermutlich eher geheult. »Ich habe keine Lust, morgen nach Hause zu kommen und wieder auf heißen Kohlen zu sitzen, und vielleicht rufst du überhaupt nicht an, und vielleicht habe ich dann auch keine Lust mehr, morgens aufzustehen!«
Mit aller Wucht spießte ich eine Wachtel auf, ließ sie dann begleitet von einer unkontrollierten Lachsalve wieder auf meinen Teller plumpsen.
»Ich rufe dich an.« Jan war jetzt vollkommen ernst und ich stocknüchtern.
»Das reicht mir aber nicht.« Ich schob die Wachtel an den Tellerrand, weil ich sie sowieso nicht runterkriegen würde. »Ach, großer Mist …«
Wenn ich nicht aufpaßte, würde ich tatsächlich gleich anfangen zu weinen. Mit Schrecken dachte ich daran, daß ich nur ein einziges Taschentuch dabeihatte, hundertmal reingerotzt und absolut zerfleddert.
Als ich wieder hochsah, war Jan kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er aß nicht mehr, schaute mich einfach nur an, eine Sekunde nach der anderen zerrann. Kindheitsbilder reihten sich wie Fotos vor meinem inneren Auge auf Sandkasten und Schaukel auf dem Hof, das Feld hinterm Haus, Stehparty mit sieben und mit richtigen Jungs, Ausflug in der Grundschule, ich rannte am schnellsten von allen, Konfirmandenfreizeit mit zwölf, zum ersten Mal rasend verliebt, ich konnte Fußball spielen und toben und wie ein Junge bolzen, aber die mädchenhaften Mädchen machten immer das Rennen …
»He!« Jan packte mich am Arm. »Dein Essen wird kalt.«
Ich bugsierte die Wachtel wieder in die Mitte des Tellers, zerlegte sie umständlich und steckte mir dann ein winziges Häppchen in den Mund.
Um uns herum war schon seit einiger Zeit das Chaos ausgebrochen. Ein Teil der Kellnerschaft machte mit Gitarre, Mundharmonika und Töpfen Musik, der andere tanzte
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