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Lisa

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Titel: Lisa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Sonnenbrand. Auf den Schultern. Weil ich mir heute eingebildet habe, ich müsste Alex zeigen, wie man Bäume beschneidet. Was er mit einiger Wahrscheinlichkeit in seinem modernen Städterleben nie brauchen wird. Vermutlich wollte ich nur angeben und ihm unter die Nase reiben, was sein Vater alles kann.
    …
    Ich bin mir nicht sicher, ob ich darüber bereits gesprochen habe, doch meiner trüben Erinnerung zufolge wurde der Augenzeuge noch nicht erwähnt. Der kommt nun ins Spiel. Vor einem Jahr ungefähr geschieht Folgendes:
    Ich will gerade zur Arbeit, als mich unser Nachbar aufhält. Ein netter älterer Herr, schon in Rente, gelbe große Augen, hat in einem relativ ereignisarmen Beruf gearbeitet, Buchhaltung wäre das Klischee, Buchhaltung war es zwar nicht, aber ihr dürftet euch das Männchen vorstellen können. Klein und karierte weite Hemden und leise Stimme und gut rasiert und Herzchen auf dem Türvorleger und eben diese Leberaugen. Er spricht mich an, er muss mir etwas mitteilen. Ich sage, gern, ob es am Abend geht, ich muss zur Arbeit. Und er, ob er mitgehen und mit mir auf dem Weg sprechen darf. Na klar, sage ich.
    Als erstes erzählt er mir, er zieht aus. Er fühlt sich nichtmehr wohl allein in der Wohnung, denn er hat Zucker und Asthma oder eine ähnliche Kombination, es waren auf alle Fälle zwei Krankheiten, bei denen ihr von der einen schon genug hättet. Er wohnt ab kommendem Monat bei seiner Tochter, die haben jetzt mehr Platz, weil der Junge studiert und ausgezogen ist et cetera.
    In solchen Fällen gratuliert ihr, wünscht alles Gute, fragt, ob ihr helfen könnt, beim Übersiedeln oder überhaupt, macht ein paar Witze über eure fragwürdigen Fähigkeiten als Möbelpacker oder so was Ähnliches, und genau das mache ich. Er aber bleibt ernst. Er sagt, er will sich entschuldigen.
    Moment, bin gleich wieder da.
    …
    Musste das Fenster zumachen. Hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wieso es hier zieht und woher die verdammten Mücken kommen. Im nächsten Leben werde ich Fledermaus und futtere die alle auf.
    Quatsch, das nehme ich zurück, das muss nun wirklich nicht sein. Habe mir das eben vorgestellt. Das ist ja eine widerliche Existenz.
    Da fällt mir ein, was ich neulich über die Angehörigen irgendeiner fernöstlichen Religion gelesen habe. Den Namen habe ich mir natürlich nicht gemerkt. Diese Menschen glauben, jemand, der ein unrechtes Leben geführt hat, wird achtzigmillionenmal hintereinander als Tier geboren. So stand es zumindest da. Und ich fragte mich, wer an so etwas glaubt. Und wieso? Bitte wieso?
    Freunde, wie kommt so etwas in die Welt? Achtzig Millionen Tierinkarnationen. Nicht sechzig Millionen oder zweihundert Millionen oder fünftausend oder fünfzig oder fünf, nein, es müssen achtzig Millionen sein. Woher beziehendiese Leute ihre Informationen? Wie kommen sie auf ihre achtzig Millionen?
    Und wie ist das bei den Zeugen Jehovas, die glauben doch, dass unter ihnen die 144000 Gerechten sind, die ins Paradies einziehen werden. Wieso um alles in der Welt ausgerechnet 144000? Wer hat das Himmelreich vermessen? Wieso ist da nicht mehr Platz, sagen wir, für weitere 2500? 144000, das ist ein großes Sportstadion. Okay, ein sehr großes. Und wenn sie Zusatztribünen aufstellen? 150000? Wieso ist das Himmelreich limitiert?
    …
    Hallo da draußen, geht es noch? Ich glaube, wer mir regelmäßig zuhört, kann selber nicht ganz richtig im Kopf sein. Wenn es jemanden gibt, der hier am Ball bleibt, würde ich ihn ziemlich gern kennenlernen, selbst wenn es keine schöne Frau ist. Aber im Augenblick bleibe ich lieber so isoliert, wie ich jetzt bin. Keine Lust, dass mich Lisa statt der schönen Frau besuchen kommt. Na ja, vielleicht ist die auch schön. Andererseits, bei dem Alter.
    Der gelbäugige Nachbar, da waren wir. Ich muss mich entschuldigen, sagt er, und Sie wissen gar nicht warum. Weiß ich tatsächlich nicht, sagen Sie es mir, kann nicht so wild sein. Ist es vielleicht doch, es fällt mir sehr schwer, es Ihnen zu beichten … In der Art, er hat immer ein wenig salbungsvoll geredet.
    Er stottert, und ich verstehe zunächst nur so viel: In jener Nacht, als die Bande in meine Wohnung eingebrochen ist, saß er auf seinem Balkon. Und zwar schreckensstarr. Er wiederholt immer wieder, ich bin kein Held, wissen Sie, ich bin kein Held. Mann, hat das gedauert, bis ich ihn so weit hatte, dass er mir alles der Reihe nach erzählt.
    Der alte Herr hat das Ganze gesehen! Er sitzt da oben, weil er

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