Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
habe eine ganze Masse gegessen.“
Soweit war alles gut und schön.
„Mutti! Findest du, rote Nägel sehen gut aus?“
„Tja…“, antwortete ich zögernd. „Vielleicht – wenn man abends zu einer Gesellschaft oder dergleichen geht…“
„Du? Glaubst du, es würde mich kleiden, wenn ich das Haar aufgerollt trüge – ich meine eine hohe Frisur… Denke dir, gestern tanzte Erling mit einer Dame, die…“
„Einen Augenblick mal, Lisbeth! Ich habe mit dir noch ein Hühnchen zu rupfen.“
Lisbeths Gesicht verfinsterte sich ein wenig.
„Meinst du das Kleid?“
„Ja. Du warst gestern nicht fair, Lisbeth.“
„Nicht – nicht fair?“
„Nein. Du hast mit meiner Anständigkeit gerechnet und sie ausgenutzt. Natürlich wollte ich dich vor Erling Boor nicht blamieren. Das hattest du erwartet und deshalb etwas getan, von dem du genau wußtest, daß ich damit durchaus nicht einverstanden war.“
„Du – du bist so – wie soll ich sagen? – so streng geworden, Mutti. So warst du früher nie. Auf einmal kehrst du deine mütterliche Autorität heraus…“
„O nein, Lisbeth. Das hat mit mütterlicher Autorität nichts zu tun. Wenn eine meiner Freundinnen sich so benommen hätte wie du, dann hätte ich ihr genau das gleiche gesagt. Weißt du auch, Lisbeth, daß du etwas Ähnliches getan hast wie damals an deinem Geburtstag, als du Heming am Morgen überrumpeltest und ihn batest, er möchte dir einen Entschuldigungszettel schreiben? Das ist nun einmal nicht fair, Lisbeth.“
Ich erhob nicht die Stimme. Ich bemühte mich, ruhig und freundlich zu sprechen.
Lisbeth wurde rot und biß sich auf die Lippe.
„Du magst wohl recht haben, Mutti. Aber, weißt du, ich fand es so gräßlich, in einem kurzen Kleid zu gehen.“ Ihre Stimme klang so jung und hilflos, daß ich weich wurde.
„Dann werden wir wohl sehen müssen, daß wir dir ein Cocktailkleid kaufen.“
Kaum hatte ich das gesagt, so bereute ich es auch schon. Es war bestimmt falsch, Lisbeths Ungehorsam auf diese Weise noch zu belohnen. Deshalb fuhr ich schnell fort:
„Aber die Sache gefällt mir nicht, Lisbeth. Ich glaubte, du hättest gelernt zu unterscheiden, was fair ist und was nicht.“
Lisbeth schwieg eine Weile mit niedergeschlagenen Augen. Sie war in diesem Augenblick ein richtiges Kind – ein kleines Schulmädchen, das Schelte bekommen hat. Schließlich blickte sie auf und versuchte zaghaft zu lächeln.
„Nun wirst du mich wohl bestrafen wollen?“
Da mußte ich lächeln.
„Nein, mein Kind. Das habe ich einmal getan, und da warst du sieben Jahre alt. Und ich habe es bitter bereut und dich um Verzeihung gebeten. Weißt du es noch?“
Lisbeth nickte. Ihre Augen waren plötzlich blank.
„Und ich habe dir feierlich versprochen, daß das nie wieder vorkommen solle. Weißt du es noch?“
Sie nickte abermals.
„Gut, dann sprechen wir nicht mehr davon.“
Wir schwiegen beide.
Aber es war kein wohltuendes Schweigen. Ich versuchte es zu brechen.
„Was hattest du sagen wollen, Lisbeth? Du sprachst von roten Nägeln und aufgerolltem Haar. Aber ich habe dich wohl unterbrochen?“
„Ach – “, sagte Lisbeth. „Ach nein. Es war nichts weiter.“
Ich Närrin! Ich unfähigste Psychologin von der ganzen Welt! Weshalb nur mußte ich anfangen, Moralpredigten zu halten? Weshalb mußte ich das dumme Kleid erwähnen? Weshalb mußte ich Lisbeth unterbrechen, als sie anfing, vertrauensvoll zu erzählen? Selbst wenn sie von roten Nägeln, aufgerolltem Haar und dergleichen redete – so erzählte sie doch jedenfalls und fragte mich um Rat! Und ich törichtste aller Törinnen verscherzte mir das, indem ich sie unterbrach und ihr Vorwürfe machte! Was hatte ich damit erreicht? Daß Lisbeth verschlossen und schweigsam wurde! Zum ersten Male erhielt ich die Antwort: „Ach, es war nichts weiter!“ Und sonst pflegte ihr Mundwerk wie ein Mühlrad zu gehen, und sie redete und bisweilen „um und dumm“ – um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen.
Nie hätte mein Mädchen mich so nötig gehabt wie eben jetzt! Und gerade in diesem Augenblick mußte ich sie von mir wegstoßen! Um eines Kleides willen! Ich hätte mich ohrfeigen mögen.
Ich hatte eigentlich erwartet, es würde jetzt eine Sturzsee von Telefonanrufen über Lisbeth hereinbrechen, und ich war verwundert und erleichtert, als sie ausblieben.
Aber ich war nicht erleichtert, wenn ich meine Tochter beobachtete.
Lisbeth war ruhelos geworden. Sie fing bald das eine, bald das andere an und
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