Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
Nils Sunde machte er halt und blickte ihn forschend an.
„Stell dir vor, du hättest ein Auto!“ sagte Peik.
„Ja, stell dir das vor!“ sagte Nils Sunde.
„Nur dumme Menschen haben ein Auto“, fuhr mein Sohn fort. Mit dieser unergründlichen Bemerkung trat er ab und schloß die Tür.
Morten und Lisbeth einigten sich am Radio schließlich auf ein französisches Tanzorchester. Sie schoben den Tisch beiseite, um eine Tanzfläche zu schaffen. Sie tanzten glänzend zusammen, aber sie hatten ja auch, abgesehen von der gemeinsam besuchten Tanzschule, eine dreijährige Übung auf Jugendgesellschaften hinter sich.
„Wenn es sein muß, so muß es sein“, sagte Heming. „Marianne, erweisest du mir die große Ehre?“
„Jetzt gilt es, zu zeigen, was man kann“, lachte Nils Sunde.
„Trauen Sie sich, Frau Skar?“
Ich traute mich. Nils Sunde tanzte gut.
„Sie müssen musikalisch sein“, sagte ich. „Sie haben einen so guten Rhythmus.“
„Wissen Sie nicht, daß fast alle Mathematiker musikalisch sind?“ lächelte Nils Sunde. „Das ist doch nur logisch.“
„Wieso?“ fragte ich verständnislos.
„Mathematik und Musik sind beide vollendete Harmonien“, sagte Sunde. „Eine Fuge von Bach ist ein ebenso großes Wunder wie die höhere Mathematik.“
„Oh!“ sagte ich. „Ich muß ehrlich gestehen, daß ich Bach ebensowenig kenne wie ich etwas von der höheren Mathematik weiß.“
Jetzt verlangte Lisbeth, mit ihrem Vater zu tanzen, und Morten war so ritterlich, mich zu engagieren. Dann tanzte Marianne mit Nils Sunde.
Marianne redet nie, wenn sie tanzt. Ich warf einen Blick auf sie. Wie sie in dem Tanz völlig aufging! Leicht wie eine Feder war sie, und sie richtete sich gehorsam und feinfühlig nach ihrem Partner. Er schwieg ebenfalls, aber seine Augen hingen an ihrem Gesicht. Nachdem er zwischendurch meine redselige Tochter ein paarmal geschwungen hatte, kehrte er zu Marianne zurück. Und bei ihr blieb er.
Morten und Heming gingen in den Keller, um Weißwein, Selterswasser und eine Dose Früchte zu holen. Dann wurde in der Küche gebraut und gekostet, und wir delektierten uns an einer großen kühlen Bowle.
Die Zeit verging. Es war schon über Mitternacht hinaus, als unsere Gäste aufbrachen.
„Ich werde dich nach Hause fahren“, sagte Morten höflich.
„Das geht wohl schlecht“, lächelte Marianne. „Ich kann in diesem Kleid nicht auf dem Motorrad sitzen…“
„Kein Grund zur Besorgnis, Morten“, sagte Nils Sunde, und seine Stimme war tief und warm. „Ich bringe Marianne nach Hause.“
„Niemand kennt den Weg des Fisches im Meere, den Flug eines Vogels unter dem Himmel oder den Weg eines Mannes zu einer Jungfrau“, lautet ein altes Sprichwort.
Was die beiden ersten Dinge angeht, so erkläre ich mich einverstanden, was aber das dritte angeht, so glaube ich einigermaßen im Bilde zu sein. Jedenfalls war es mir völlig klar, wie Nils Sunde den Weg zu Marianne fand. Denn fortan wiederholte er den Besuch bei uns so oft wie möglich. Das lag weder an mir noch an seinen pädagogischen Gesprächen mit Heming, ebensowenig konnte man annehmen, daß er durch Lisbeths Unwiderstehlichkeit oder Peiks unverhohlener Begeisterung angezogen wurde. Lisbeth hatte er schon am ersten Abend mit einem gutmütigen Lächeln dort eingereiht, wo sie tatsächlich hingehörte – nämlich auf der gleichen Linie wie Morten: künftige Schülerin, nettes und unbefangenes junges Mädchen. Marianne hingegen…
Und Marianne ging ja als graue Katze bei uns aus und ein. Es dauerte nicht viele Tage, so war Nils eine ebenso graue Katze. Mit großer Freude nahmen wir ihn unter uns auf. Wir konnten ihn alle gut leiden, und er fügte sich ebenso natürlich in unser tägliches Leben wie Marianne. Man fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. Immer hatte er etwasDrolliges und Interessantes zu erzählen, und immer hörte er aufmerksam zu, wenn andere erzählten. Die Wogen der Unterhaltung gingen bei uns oft recht hoch, und das war sehr amüsant.
Das allerbeste aber war, daß Lisbeth wieder in unseren häuslichen Kreis hineingezogen wurde. Sie war nicht länger so zerstreut und geistesabwesend, kurz, sie vergaß, daß sie die Dame zu spielen wünschte. An dem Tage, an dem sie sich am Mittagstisch mit einer blanken Nase, zerknüllten Bluse und ungebändigtem Haar einfand, hätte ich sie vor Freude umarmen können. Und als sie eines Nachmittags ihre Schulaufgaben und das Aufräumen vergaß, um mit Morten eine lange
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