Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
habe ich schon vor dir Respekt.“
Ich lachte.
„Das muß wohl eine besondere Art sein?“
„Ja, aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Hast du solche – solche Verdrängungskomplexe erlebt?“
Das war eine indiskrete Frage. Aber Lisbeth war mir gegenüber offen. Sollte ich da nicht ihr gegenüber ebenfalls offen sein?
„Ja, du, das habe ich wohl. Und ich fürchte, ich bin mit ihnen noch immer nicht fertig geworden.“
„Hast du so furchtbare Dummheiten gemacht, Mutti?“
„Ich war einmal sehr nahe daran, eine ganz entsetzliche Dummheit zu begehen, Lisbeth. Eine Dummheit, die mein Leben zerstört hätte – und das deine auch.“
Lisbeth nickte.
„Ich weiß, was du meinst.“
„Wirklich?“
„Ich glaube jedenfalls, daß ich es weiß. Aber es ist jetzt lange her. Nicht wahr?“
„Ja, zehn Jahre.“
„Und du gibst dir alle Mühe, an diese Dummheit nicht mehr zu denken?“
„Ja, ich…“
Aber unser Gespräch wurde unterbrochen.
Draußen hörte man ein fürchterliches Gebrüll. Schnelle, unsichere Schritte. Dann flog die Tür auf, und Peik kammit einer Beule auf der Stirn, einer Schramme auf der Nase und einem mit Blut beschmierten Gesicht laut heulend hereingestürzt.
Das Unglück war nicht so groß, wie es zunächst aussah. Peik wurde gewaschen und bekam ein Pflaster auf die Nase, einen kühlenden Umschlag auf die Stirn und ein Stück Schokolade zum Trost. Weder Lisbeth noch ich verloren die Nerven. Dafür war mein unternehmungslustiger Sohn schon zu oft mit Beulen und Schrammen angelaufen gekommen. Trotz seinen jungen Jahren kann er in dieser Hinsicht mit Stolz auf eine Reihe von Heldentaten zurückblicken.
Und dann kam Nils und berichtete mit strahlender Miene eine große Neuigkeit, die indessen nicht unerwartet kam.
„Abgesehen von Mariannes Mutter“, sagte Nils, „seid ihr die ersten, die es zu wissen bekommen.“
„Wann werdet ihr heiraten?“ fragte Lisbeth.
„Tja“, sagte Nils. „Du kannst dir schon in allernächster Zeit zum Brautjungfernkleid Maß nehmen lassen, Lisbeth. Die Sache ist nämlich die, daß ich eine schöne Dreizimmer-Wohnung mit Küche, Bad und Balkon bekommen kann. Sogar ganz in der Nähe der Schule. Für mich alleine ist sie aber viel zu groß. Daher erhebt sich die Frage, ob wir nicht…“
„Eine Ursache muß der Tod ja haben“, meinte Lisbeth. Ich sah es ihr an, daß ihr Köpfchen bis zum Rande mit Kleidermustern angefüllt war, und sie schwankte sicher sehr stark zwischen Wickenblüten und blaßroten Nelken.
„Das Schlimmste ist“, sagte sie, „daß Marianne die Frau meines Lehrers werden soll. Du meine Güte! Was ist das hier für ein Durcheinander von Generationen! Wenn Muttiund Vati Freunde haben, die etwas jünger sind als sie selber, und wenn ich Freunde habe, die etwas älter sind, so begegnen sie sich in der Mitte, und dann gehen die Generationen ganz ineinander über, und dann…“
„… dann bleiben wir alle miteinander jung“, lachte Nils. „Ja, ja. Lisbeth, du hättest einen strengen Vater mit einer Goldbrille und Glatze und eine Mutter mit Wohltätigkeitsversammlungen und Kaffeekränzchen haben müssen; die hätten sich wenigstens bei dir einen angemessenen Respekt verschaffen können, aber so…“
„Hilfe!“ sagte Lisbeth. „Von zwei Übeln ziehe ich das kleinere vor. Eltern mit goldenen Brillen und Kaffeekränzchen müssen noch schwerer zu erziehen sein als Eltern mit kurzen Hosen und leichtsinnigen Redensarten.“
„Entschuldige, Lisbeth“, protestierte ich. „Hast du schon jemals leichtsinnige Redensarten aus unserem Munde gehört?“
„O nein, aber ihr fallt wenigstens nicht um, wenn ihr jemand in dieser Weise sprechen hört, und ihr könnt doch folgen, wenn es euch auch schwerfällt.“
Lisbeth versetzte mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Backe und zog sich laut pfeifend zurück. Sie wollte ausnahmsweise einmal für die Schule arbeiten. Es war ihr nämlich mittlerweile aufgegangen, daß die Versetzung gefahrdrohend näherrückte.
„Ja, Steffi“, sagte Nils. „Jetzt gedenke ich einmal richtig abscheulich zu dir zu sein.“
„Das ist hübsch von dir“, lachte ich.
„Ich bin indiskret und garstig, das gebe ich zu, aber es geschieht in guter Absicht und auf freundschaftlicher Basis. Vergiß das nicht!“ Nils’ Gesicht wurde plötzlich ernst. „Es geht mich ja schließlich nichts an, Steffi – aber wenn dusiehst, daß ein Mensch im Begriff ist, zu ertrinken, dann springst du ins Wasser
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