Literaturgeschichte der USA
die Tiefe gerissen wird.
Erzähltechnisch interessant und bahnbrechend ist der Einsatz des Matrosen Ishmael, mit dessen Stimme Melville den Roman beginnen lässt, wenn sich der Icherzähler mit den Worten «Call me Ishmael»[ 50 ] an den Leser wendet. Ungewöhnlich ist der Blickwinkel, aus dem Ishmael die Handlung rund um die zentrale Figur des mysteriösen Captain Ahab wiedergibt. Die Frage, warum das Geschehen aus der limitierten Perspektive Ishmaels dargestellt wird, lässt sich mit der damit einhergehenden Mystifizierung Ahabs leicht erklären. Würde Melville Ahab als Icherzähler einsetzen, wären seine verwundenen Gedanken für den Leser kein Geheimnis mehr, sondern vielmehr durchschaubar wie ein offenes Buch. Diese Technik wendet in den 1920er Jahren F. Scott Fitzgerald auf ähnliche Weise in seinem Roman
The Great Gatsby
an, um ebenfalls die mysteriöse Zentralfigur Gatsby durch eine unbedeutende Nebenfigur als Icherzähler zu überhöhen.
Neben diesen erzähltechnischen Besonderheiten zeichnet sich der Roman ähnlich wie Thoreaus
Walden
durch eine Vielzahl penibler listenartiger Aufzählungen besonders von Walfangtechniken aus. Wieder ist man an das transzendentalistische Verständnis der empirischen Fakten erinnert, das schlussendlicheine kosmische Einsicht in Form eines umfassenden «
reason
» erzeugt. Mit den Werken von Nathanael Hawthorne wiederum hat
Moby Dick
den Hang zum Symbolisch-Parabelhaften gemeinsam, der sich in Ahabs Kampf mit den elementaren Kräften in Form des weißen Wals manifestiert.
Aber auch Melvilles Grundthema der Konfrontation mit dem Anderen, das bereits in
Typee
angelegt ist, tritt auf vielfältige Art in
Moby Dick
an die Oberfläche. Einmal in der psychischen Andersartigkeit Ahabs, aber auch in der Figur des edlen Wilden Queequeg, der als tätowierter Kopfjäger eine freundschaftliche Beziehung zu Ishmael unterhält. Gerade in dieser Beziehung zeigt sich wieder eine mögliche homoerotische Tiefenstruktur, wenn Ishmael im Bett, das er sich mit Queequeg teilen muss, plötzlich über seine Geschlechtsidentität reflektiert, weil Queequeg als Repräsentant des kulturell Anderen im Schlaf seinen tätowierten Arm um ihn gelegt hat:
Upon waking next morning about daylight, I found Queequeg’s arm thrown over me in the most loving and affectionate manner. You had almost thought I had been his wife.[ 51 ]
Als ich am nächsten Morgen gegen Tagesanbruch erwachte, lag Quiquegs Arm mit der liebevollsten und zärtlichsten Gebärde über mir. Fast konnte man meinen, ich sei seine Frau.[ 52 ]
Dieses kulturelle und sexuelle «Andere», an dem sich Melville in seinen Seeromanen abarbeitet, tritt in modifizierter Gestalt auch in seinen Kurzgeschichten auf. In seinem fast postmodern anmutenden «Bartleby, the Scrivener: A Story of Wall Street» (1856) trifft der Icherzähler und Inhaber einer Firma an der New Yorker Wall Street auf den Schreiber Bartleby. Dieser entzieht sich den gesellschaftlichen Normen auf eigenwillige Weise und repräsentiert die Funktion des Anderen innerhalb der dominanten Kultur Amerikas. Der kauzige Bartleby wird zu einem konsequenten Normverweigerer, der alle Aufträge seines Arbeitgebers mit einem stereotypen «I would prefer not to.»[ 53 ] ablehnt. Der Icherzähler ist diesem passiven Widerstand hilflosausgeliefert und muss mehr oder minder ohnmächtig akzeptieren, dass sich Bartleby in einem der Büros häuslich niederlässt und jegliche Arbeit verweigert. Nur durch eine Übersiedlung der Firma kann der Firmeninhaber sich schließlich Bartlebys entledigen.
Melville gelingt es in dieser Kurzgeschichte, mit dem amerikanischen Traum der protestantischen Arbeitsethik, wie sie schon Benjamin Franklin in seiner Autobiographie festgeschrieben hat, radikal abzurechnen. In der Figur Bartlebys realisiert er auf eigenwillige Weise Thoreaus Konzept des zivilen Ungehorsams, wobei er dieses aber auf fast absurde Weise überzeichnet. Mit seiner Charakterisierung Bartlebys entwickelt Melville bereits Elemente des absurden Theaters und der Postmoderne oder auch der Kurzgeschichten J. D. Salingers aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Melvilles Interesse an «Andersartigkeit», dem er in den Seeromanen und den Kurzgeschichten nachgeht, ist vor allem kulturkritisch motiviert und ausgerichtet darauf, die Grenzen der sozial kodierten Geschlechtsidentität zu verwischen. Noch einen Schritt weiter in dieser Psychologie der Andersartigkeit ging Melvilles Zeitgenosse
Edgar Allan
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