Little Brother
Depp. Du denkst, du bist in Gefahr? Ja, aber ich doch genauso, Marcus. Mitgefangen, mitgehangen. Wenn du gehst, gehe ich mit."
Wir setzten uns zusammen schweigend aufs Bett.
"Es sei denn, du willst mich nicht", sagte sie schließlich mit kläglicher Stimme.
"Machst du Witze?"
"Seh ich so aus, als würde ich Witze machen?"
"Ohne dich würde ich für kein Geld der Welt freiwillig gehen, Ange. Ich hätte es nie gewagt, dich zu fragen; aber du glaubst nicht, was es mir bedeutet, dass du es anbietest."
Sie lächelte und schubste mir meine Tastatur rüber.
"Mail dieser Masha-Kröte. Mal schauen, was die Braut für uns tun kann."
Ich mailte ihr, verschlüsselte die Nachricht und wartete auf ihre Antwort. Ange tätschelte mich ein wenig, ich küsste sie und wir knutschten ein bisschen. Das Wissen um die Gefahr und unsere Verabredung, zusammen zu verschwinden - all das ließ mich die Peinlichkeiten am Sex vergessen und machte mich spitz wie Hölle.
Wir waren wieder halb nackt, als Mashas Mail eintrudelte.
> Ihr seid zu zweit? Oh Gott, als ob es nicht schon schwierig genug wäre.
> Ich kann mich nicht los machen, außer für ein bisschen Feindaufklärung nach einem großen Xnet-Event. Verstanden? Meine Hintermänner beobachten mich auf Schritt und Tritt, aber sie lassen mich von der Leine, wenn irgendwas Großes mit Xnettern passiert. Dann werde ich vor Ort eingesetzt.
> Also müsst ihr was Großes anleiern. Da werde ich hingeschickt, und dann hole ich uns beide raus. Uns drei meinetwegen.
> Aber mach schnell, ja? Ich kann dir nicht oft mailen, kapiert? Die beobachten mich. Und sie kommen dir immer näher. Du hast nicht mehr viel Zeit. Wochen? Vielleicht nur noch Tage.
> Ich brauch dich, um selbst rauszukommen. Deshalb tu ich das alles, nur falls du dich wunderst. Ich kann nicht auf eigene Faust verschwinden. Ich brauch ne fette Xnet-Blendgranate. Das ist dein Job. Lass mich nicht im Stich, M1k3y, oder wir sind beide tot. Und deine Freundin auch.
> Masha
Das Klingeln meines Telefons ließ uns beide hochschrecken. Es war meine Mom, die wissen wollte, wann ich heimkommen würde. Ich sagte ihr, ich sei schon unterwegs. Sie erwähnte Barbara mit keinem Wort - wir hatten vereinbart, nichts davon am Telefon zu erwähnen. Das war die Idee meines Dads gewesen. Der konnte genauso paranoid sein wie ich.
"Ich muss jetzt los", sagte ich.
"Unsere Eltern werden..."
"Ich weiß. Ich hab doch gesehen, was mit meinen Eltern los war, als sie dachten, ich sei tot. Und wenn sie wissen, dass ich ein Flüchtling bin, wird das nicht viel besser sein. Aber lieber ein Flüchtling als ein Gefangener. So seh ich das. Und überhaupt: Sobald wir weg sind, kann Barbara alles veröffentlichen, ohne uns damit in zusätzliche Gefahr zubringen."
Wir küssten uns an ihrer Zimmertür. Nicht eine dieser heißen, lässigen Nummern wie sonst, wenn wir uns verabschiedeten. Ein süßer Kuss diesmal. Ein langsamer Kuss. Ein Lebewohl-Kuss.
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Fahrten in der BART haben was Introspektives. Wenn der Zug hin- und herruckelt und du versuchst, keinen Blickkontakt zu den anderen Fahrgästen herzustellen; wenn du versuchst, nicht all die Plakate für kosmetische Chirurgie, Kautionsvermittler und AIDS-Tests zu lesen; wenn du die Graffiti zu ignorieren versuchst und dir all das Zeug im Teppich lieber nicht zu genau anguckst - in diesen Momenten wird dein Geist wirklich gründlich durchgerüttelt und -geschüttelt.
Du ruckelst also hin und her, und dein Gehirn spult all die Dinge ab, die du bislang übersehen hast, zeigt dir all die Filme deines Lebens, in denen du nicht der Held warst, sondern ein Trottel und ein Versager.
In solchen Momenten entwickelt dein Gehirn Theorien wie diese: "Wenn das DHS M1k3y fangen wollte, wäre es dann nicht das Geschickteste, ihn aus seiner Deckung zu locken? Ihn zu einer Panikreaktion in Form eines riesigen öffentlichen Xnet-Events zu veranlassen? Wäre das nicht das Risiko wert, ein kompromittierendes Filmchen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen?" Dein Gehirn bombardiert dich zwangsläufig mit solchem Zeug, selbst wenn die Zugfahrt nur zwei oder drei Stationen lang dauert. Wenn du dann aussteigst und losläufst, dann nimmt auch dein Blutkreislauf wieder Fahrt auf, und manchmal hilft dir dein Gehirn auch wieder aus deinem Dilemma heraus.
Manchmal liefert dir dein Gehirn nicht nur Probleme, sondern auch die passenden Lösungen.
Kapitel 18
Es gab mal ne Zeit, da war es meine absolute Lieblingsbeschäftigung,
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