Little Brother
Nacht geträumt. Ich hatte ihr Gesicht drohend über mir schweben gesehen, dieses kleine dreckige Grinsen, als sie den Mann anwies, mir "was zu trinken" zu geben.
"Marcus...", begann Barbara, aber ich unterbrach sie.
"Ist okay. Es ist alles okay. Ich werde darüber ein Video machen. Und übers Wochenende stelle ich es online. Montage sind gute Tage für virale Clips. Jeder kommt aus dem Feiertagswochenende zurück und guckt, was es so Lustiges gibt zum Weiterleiten in der Schule oder im Büro."
Ein Teil meines Deals mit dem Wohnheim war, dass ich zwei Mal pro Woche einen Psychoklempner besuchte. Seit ich darüber weg war, das als Bestrafung zu empfinden, war das eine echt gute Sache. Er half mir, mich auf konstruktive Dinge zu konzentrieren, wenn ich mich aufregte, statt mich von meinem Ärger auffressen zu lassen. Die Videos halfen dabei.
"Ich muss jetzt los", sagte ich und schluckte dabei, um die Emotionen aus meiner Stimme rauszuhalten.
"Pass auf dich auf, Marcus", sagte Barbara.
Als ich das Telefon weglegte, umarmte mich Ange von hinten. "Ich hab grade online davon gelesen", sagte sie. Sie las eine Million Nachrichtenfeeds - mit einem Feedreader, der die Storys sofort saugte, sobald sie über den Ticker liefen. Sie war unsere offizielle Bloggerin, und sie machte den Job gut - sie schnitt die Nachrichten aus und stellte sie online wie ein Koch im Schnellrestaurant, der Frühstücksbestellungen umschlägt.
Ich drehte mich in ihren Armen um, um sie von vorn zu umarmen. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Allzu viel Arbeit hatten wir heute noch nicht erledigt. Es war mir nicht erlaubt, das Wohnheim nach dem Abendessen noch mal zu verlassen, und sie durfte mich dort nicht besuchen. Also sahen wir uns im Büro, aber da waren meistens viele andere Leute, was unserer Fummelei ein bisschen abträglich war. Einen ganzen Tag mit ihr allein im Büro zu sein war eine zu starke Versuchung. Außerdem war es heiß und schwül, so dass wir beide Tanktops und Shorts trugen und beim Arbeiten nebeneinander eine Menge Hautkontakt hatten.
"Ich mache ein Video", sagte ich. "Ich will es heute noch veröffentlichen."
"Gut", sagte sie. "Packen wirs an."
Ange las die Pressemitteilung. Ich nahm einen kleinen Monolog auf und legte den Ton über die berühmten Bilder von mir auf dem Waterboard - wilder Augenausdruck im harten Scheinwerferlicht, strähniges Haar, tränen- und rotzüberströmt.
"Das bin ich. Ich liege auf einem Waterboard. Ich werde mit einer simulierten Hinrichtung gefoltert. Die Folter wird von einer Frau namens Carrie Johnstone beaufsichtigt. Sie arbeitet für die Regierung. Ihr könntet sie noch von diesem Video kennen."
Ich blendete über zu dem Film mit Johnstone und Kurt Rooney. "Hier sind Johnstone und Minister Kurt Rooney, der Chefstratege des Präsidenten."
"Die Nation liebt diese Stadt nicht. Aus ihrer Sicht ist es ein Sodom und Gomorra aus Schwuchteln und Atheisten, die es verdient haben, in der Hölle zu schmoren. Der einzige Grund dafür, dass sich das Land dafür interessiert, was man in San Francisco denkt, ist der glückliche Umstand, dass sie da von irgendwelchen islamischen Terroristen zur Hölle gebombt worden sind."
"Er redet über die Stadt, in der ich lebe. Nach letzten Zählungen wurden 4215 meiner Nachbarn an dem Tag getötet, von dem er redet. Aber einige von ihnen sind vielleicht nicht tot. Einige von ihnen sind in demselben Gefängnis verschwunden, in dem ich gefoltert wurde. Einige Mütter und Väter, Kinder und Geliebte, Brüder und Schwestern werden ihre Liebsten nie wiedersehen - weil sie insgeheim in einem illegalen Gefängnis mitten in der San Francisco Bay gefangen gehalten wurden. Es wurde dort sehr penibel Buch geführt, aber Carrie Johnstone hat die Chiffrierschlüssel dafür." Ich schnitt wieder zu Carrie Johnstone, wie sie mit Rooney am Besprechungstisch saß und lachte.
Dann blendete ich die Bilder von Johnstones Verhaftung ein. "Als man sie verhaftete, glaubte ich, wir würden Gerechtigkeit erfahren. All die Menschen, die sie brach und die verschwunden sind. Aber der Präsident..." - Schnitt zu einem Foto, das ihn während eines seiner vielen Urlaube lachend beim Golfspielen zeigte - "... und sein Chefstratege..." - jetzt ein Bild von Rooney beim Händeschütteln mit einem berüchtigten Terroristenführer, der mal auf "unserer" Seite war - "... haben interveniert. Sie schickten sie vor ein geheimes Militärtribunal, das sie nun freigesprochen hat. Irgendwie sah man dort wohl
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