Little Brother
Rippen knirschten. Er drückte mich genau so, wie ich das von früher in Erinnerung hatte, als ich ein kleiner Junge war: als er mich in großartigen, schwindelerregenden Flugzeugspielen um sich herumschleuderte, mich in die Luft warf, auffing und dann eben drückte, so fest, dass es beinahe wehtat.
Ein Paar weicherer Hände entzog mich sanft seinen Armen. Mom. Sie hielt mich einen Moment lang auf Armlänge, suchte irgendetwas in meinem Gesicht und sprach kein Wort, während ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Sie lächelte, aus dem Lächeln wurde wieder ein Schluchzen, und dann hielt sie mich fest, während Dads Arm uns beide umfasste.
Als sie mich losließen, gelang es mir endlich, etwas zu sagen. "Darryl?"
"Sein Vater hat mich anderswo getroffen. Er ist im Krankenhaus."
"Wann kann ich ihn sehen?"
"Das ist unsere nächste Station", sagte Dad mit finsterer Miene. "Er ist nicht..." Er brach ab. Dann: "Sie sagen, er wird sich berappeln." Seine Stimme klang erstickt.
"Und was ist mit Ange?"
"Ihre Mutter hat sie nach Hause gebracht. Sie wollte hier auf dich warten, aber..."
Ich verstand. Ich war jetzt voller Verständnis für all die Familien all der Leute, die sie weggesperrt hatten. Überall im Gerichtssaal wurde geweint und umarmt, nicht einmal die Gerichtsdiener konnten sich mehr zurückhalten.
"Lasst uns zu Darryl gehen", sagte ich. "Und darf ich euer Handy leihen?"
Ich rief Ange auf dem Weg zum Krankenhaus an, in das sie Darryl gebracht hatten - San Francisco General, von uns aus bloß die Straße runter -, um mich mit ihr für nach dem Essen zu verabreden. Sie sprach in gehetztem Flüsterton. Ihre Mutter war noch unschlüssig, ob sie sie nun bestrafen sollte oder nicht, und Ange wollte das Schicksal nicht herausfordern.
Auf dem Flur, auf dem Darryl untergebracht war, standen zwei Nationalgardisten. Sie wehrten einen Pulk von Reportern ab, die auf Zehenspitzen standen, um einen Blick und ein Foto zu erhaschen. Die Blitze explodierten wie Stroboskope in unseren Agen, und ich schüttelte den Kopf, um den Blick wieder klar zu bekommen. Meine Eltern hatten mir saubere Klamotten mitgebracht, die ich auf dem Rücksitz angezogen hatte, aber ich fühlte mich immer noch ekelhaft, obwohl ich mich im Waschraum des Gerichts abgeschrubbt hatte.
Einige der Reporter riefen meinen Namen. Ach ja, ich war jetzt berühmt. Auch die Nationalgardisten warfen mir Blicke zu - entweder sie erkannten mein Gesicht oder meinen Namen, den die Reporter riefen.
Darryls Vater traf uns an der Tür zu seinem Krankenzimmer; er sprach im Flüsterton, so dass die Reporter nichts aufschnappen konnten. Er war in Zivil, in Jeans und Pulli, wie ich ihn kannte, aber er hatte sich die Dienstabzeichen an die Brust geheftet.
"Er schläft", sagte er. "Vor einer Weile ist er aufgewacht und hat geweint. Er hat überhaupt nicht mehr aufgehört. Dann haben sie ihm etwas gegeben, um ihm beim Einschlafen zu helfen."
Er führte uns hinein, und da lag Darryl, das Haar gewaschen und gekämmt, und schlief mit offenem Mund. In seinen Mundwinkeln war irgendwas Weißes zu sehen. Er hatte ein halbprivates Zimmer, und im anderen Bett lag ein älterer arabisch aussehender Typ in den Vierzigern. Ich erkannte ihn als denjenigen, mit dem ich auf dem Rückweg von Treasure Island zusammengekettet gewesen war. Wir winkten uns verlegen zu.
Dann wandte ich mich wieder Darryl zu. Ich nahm seine Hand. Seine Nägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Als Kind war er ein Nägelkauer gewesen, aber an der Highschool hatte er sichs abgewöhnt. Ich glaube, Van hatte es ihm ausgeredet, indem sie ihm erklärte, wie eklig es war, dass er ständig die Finger im Mund hatte.
Ich hörte, wie meine Eltern und Darryls Dad einen Schritt zurücktraten und die Gardinen um uns zuzogen. Ich legte meinen Kopf aufs Kissen neben seinen. Er hatte einen strähnigen, unregelmäßigen Bart, der mich an Zeb erinnerte.
"Hey, D", sagte ich. "Du hast es geschafft. Du kommst wieder auf die Beine." Er schnarchte ein wenig. Fast hätte ich "Ich liebe dich" gesagt, ein Satz, den ich erst zu einem einzigen Menschen außerhalb der Familie gesagt hatte und der sich merkwürdig anhörte, wenn man ihn zu einem anderen Typen sagte.
Schließlich drückte ich bloß noch einmal seine Hand. Armer Darryl.
Epilog
Barbara rief mich am Wochenende des 4. Juli im Büro an. Ich war nicht der Einzige, der am Feiertagswochenende zur Arbeit gekommen war, aber ich war der Einzige, der es tat, weil meine
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