Little Brother
lud sie alle runter und speicherte sie auf dem Laptop daheim, und der saugte und löschte die Mails auf meinem Server im 60-Sekunden-Takt. Aus meinen Mails würden sie nichts erfahren - auf dem Server war nichts mehr, alles nur auf dem Laptop daheim.
Dann zurück in die Zelle; aber sie machten meine Hände frei, ließen mich duschen und gaben mir eine orangefarbene Gefängnishose anzuziehen. Die war mir zu groß und hing mir über die Hüften wie bei einem mexikanischen Gang-Kid in der Mission. Hättet ihr gewusst, dass dieser Sackhosen-überm-Arsch-Look genau daher kommt - aus dem Knast? Und wenn mans nicht als modisches Statement meint, ist es definitiv weniger cool.
Meine Jeans nahmen sie mit, und ich verbrachte einen weiteren Tag in der Zelle. Die Wände bestanden aus Zement, der über ein Stahlgitter gespachtelt war. Das konnte man daran sehen, dass das Gitter rot-orange durch die grüne Wandfarbe schimmerte, weil der Stahl in der Salzluft rostete. Irgendwo hinter diesem Fenster waren meine Eltern.
Am nächsten Tag holten sie mich wieder.
"Wir haben deine Mails jetzt einen Tag lang gelesen. Und wir haben das Passwort geändert, damit dein Computer daheim sie nicht mehr holen kann."
Na klar hatten sie. Hätte ich auch so gemacht, wenn ichs mir recht überlegte.
"Wir haben jetzt genug gegen dich in der Hand, um dich für lange Zeit wegzusperren, Marcus. Dass du diese Gegenstände besitzt" - sie wies auf all meine kleinen Spielzeuge -, "die Daten, die wir auf deinem Telefon und den Speichersticks sichergestellt haben, und dann all das subversive Material, das wir zweifellos finden würden, wenn wir deine Wohnung durchsuchen und den Computer mitnehmen würden - das alles reicht, um dich wegzusperren, bis du ein alter Mann bist. Hast du das begriffen?"
Ich glaubte ihr kein Wort. Kein Richter dieser Welt würde in all dem Zeug irgendein Verbrechen sehen. Freie Meinungsäußerung, technische Spielereien - aber kein Verbrechen.
Aber wer sagte denn, dass diese Typen mich vor einen Richter bringen würden? "Wir wissen, wo du wohnst, und wir wissen, wer deine Freunde sind. Wir wissen, wie du handelst und wie du denkst." Langsam wurde mir was klar: Sie würden mich rauslassen. Der Raum schien heller zu werden. Ich hörte mich atmen, kurze, flache Atemzüge.
"Da ist nur eine Sache, die wir noch wissen wollen: Wie sind die Bomben auf der Brücke dahin gekommen, wo sie gezündet wurden?"
Ich hörte auf zu atmen. Der Raum wurde wieder dunkel.
"Was?"
"Es waren zehn Sprengsätze auf der Brücke, über die ganze Länge verteilt. In Kofferräumen waren sie nicht. Sie waren dort platziert worden. Aber von wem, und wie sind sie dorthin gekommen?"
"Was?", wiederholte ich.
"Marcus, dies ist deine letzte Chance", sagte sie und sah traurig aus dabei. "Bis hierher hast du so gut mitgemacht. Erzähl uns das noch, und du darfst nach Hause gehen. Du kannst dir einen Anwalt besorgen und dich vor einem ordentlichen Gericht verteidigen. Ganz sicher wird es mildernde Umstände geben, die deine Handlungen erklären können. Erzähl uns nur dies noch, und du kannst gehen."
"Ich weiß nicht, wovon Sie reden!" Ich weinte und machte mir nichts draus. Ich flennte Rotz und Wasser. "Ich habe nicht die leiseste Idee, wovon Sie reden!"
Sie schüttelte den Kopf. "Marcus, bitte, lass dir doch helfen. Inzwischen solltest du wissen, dass wir immer bekommen, was wir wollen."
Irgendwo hinten in meinem Kopf hörte ich merkwürdige Geräusche. Die waren wahnsinnig. Ich nahm mich zusammen und versuchte die Tränen zu unterdrücken. "Hören Sie, das ist doch Irrsinn. Sie waren an meinen Sachen, Sie haben alles gesehen. Ich bin ein siebzehnjähriger Schüler und kein Terrorist. Sie können doch nicht ernsthaft annehmen -"
"Marcus, hast du immer noch nicht begriffen, dass wir ernsthaft sind?" Sie schüttelte wieder den Kopf. "Du hast ziemlich gute Noten. Ich glaubte, du würdest klüger sein." Sie machte eine schnippende Geste, und die Wachen packten mich unter den Armen.
Zurück in der Zelle fielen mir hundert kleine Reden ein. Die Franzosen nennen das "esprit d'escalier" - den Geist der Treppe, die schlagfertigen Erwiderungen, die dir einfallen, sobald du den Raum verlässt und die Treppe runterschleichst. In Gedanken stand ich da vor ihr und deklamierte meine Texte, sagte ihr, ich sei ein Bürger, der seine Freiheit liebt, weshalb wohl eher ich der Patriot und sie der Verräter sei. In Gedanken beschämte ich sie dafür, mein Land in ein
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