Little Brother
bewaffnetes Lager verwandelt zu haben. In Gedanken war ich beredt und brillant und ließ sie in Tränen aufgelöst zurück.
Aber wisst ihr was? Kein einziges dieser edlen Worte kam mir wieder in den Sinn, als sie mich am nächsten Tag wieder holten. Alles, woran ich denken konnte, war Freiheit. Meine Eltern.
"Hallo, Marcus", sagte sie. "Wie fühlst du dich?"
Ich schaute zum Tisch. Sie hatte einen ordentlichen Dokumentenstapel vor sich aufgehäuft, und neben ihr stand der unvermeidliche Starbucks-Pappbecher. Irgendwie fand ich das beruhigend, eine Erinnerung daran, dass es irgendwo hinter diesen Mauern noch eine echte Welt gab.
"Für den Moment haben wir die Ermittlungen über dich abgeschlossen." Sie ließ den Satz so im Raum stehen. Vielleicht bedeutete es, sie würde mich jetzt rauslassen. Vielleicht bedeutete es, sie würde mich irgendwo in ein Loch werfen und meine Existenz vergessen.
"Und?", fragte ich schließlich.
"Und ich möchte dir nochmals ins Gedächtnis rufen, dass wir diese Angelegenheit sehr ernst nehmen. Unser Land hat den schlimmsten Terroranschlag aller Zeiten auf seinem Territorium erlebt. Wie viele 11. September willst du uns noch erleiden lassen, bevor du kooperierst? Die Einzelheiten unserer Untersuchungen sind geheim. Wir lassen uns von nichts und niemanden in unserem Bemühen aufhalten, die Urheber dieser abscheulichen Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Verstehst du das?"
"Ja", murmelte ich.
"Wir schicken dich heute nach Hause, aber du bist jetzt ein Gezeichneter. Du bist keineswegs frei von jedem Verdacht - wir lassen dich lediglich frei, weil wir für den Moment keine weiteren Fragen an dich haben. Aber von nun an gehörst du uns. Wir werden dich beobachten. Wir werden nur darauf warten, dass du einen falschen Schritt machst. Begreifst du, dass wir dich rund um die Uhr genauestens überwachen können?"
"Ja", murmelte ich.
"Gut. Du wirst niemals und mit niemandem darüber reden, was hier passiert ist. Dies ist eine Angelegenheit nationaler Sicherheit. Weißt du, dass auf Verrat in Kriegszeiten immer noch die Todesstrafe steht?"
"Ja", murmelte ich.
"Guter Junge", säuselte sie. "Wir haben hier einige Dokumente für dich zur Unterschrift." Sie schob den Papierstapel über den Tisch zu mir hin. Kleine Post-its, bedruckt mit "hier unterschreiben", waren drauf verteilt. Ein Wärter löste meine Handschellen.
Ich blätterte durch die Papiere; meine Augen tränten und mein Kopf brummte. Ich verstand das nicht. Ich versuchte die Paragraphen zu entziffern. Wies aussah, unterschrieb ich eine Erklärung, derzufolge ich mich freiwillig hier hatte festhalten und befragen lassen, ganz aus eigenem freiem Willen.
"Was passiert denn, wenn ich das nicht unterschreibe?", fragte ich.
Sie zog den Stapel an sich und machte wieder diese schnippende Geste. Die Wachen rissen mich auf meine Füße.
"Warten Sie!", schrie ich. "Bitte! Ich unterschreibe!" Sie zerrten mich zur Tür. Alles, was ich sehen konnte, war diese Tür; alles, woran ich denken konnte, wie sie hinter mir zuging.
Ich hatte verloren. Ich weinte. Ich bettelte, die Papiere unterschreiben zu dürfen. Der Freiheit so nah zu sein und sie dann wieder entzogen zu bekommen, das machte mich willens, wirklich alles zu tun. Ich weiß nicht, wie oft ich jemanden hab sagen hören, "eher sterb ich, als dies-und-jenes zu machen" - ich habs ja selbst oft genug gesagt. Aber in diesem Moment begriff ich erstmals, was das wirklich bedeutete. Ich wäre eher gestorben, als in meine Zelle zurückzugehen.
Ich bettelte, als sie mich auf den Flur rauszogen. Ich sagte ihnen, ich würde alles unterschreiben.
Sie rief den Wachen etwas zu, und sie blieben stehen. Sie brachten mich zurück. Sie setzten mich an den Tisch.
Einer von ihnen gab mir den Stift in die Hand.
Und natürlich unterschrieb ich, und ich unterschrieb, und ich unterschrieb.
Meine Jeans und mein T-Shirt waren in meiner Zelle, gereinigt und zusammengelegt. Sie rochen nach Waschmittel. Ich zog sie an, wusch mir das Gesicht, setzte mich dann auf meine Pritsche und starrte die Wand an. Sie hatten mir alles genommen. Erst meine Privatsphäre, dann meine Würde. Ich war bereit gewesen, wirklich alles zu unterschreiben. Ich hätte sogar unterschrieben, dass ich Abraham Lincoln ermordet hatte.
Ich versuchte zu weinen, aber meine Augen fühlten sich trocken an, keine Tränen mehr da.
Sie holten mich wieder. Ein Wärter kam mit einer Kapuze zu mir, so einer wie der, die ich aufbekommen hatte,
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