Little Brother
als sie uns aufgriffen; wann auch immer das war - vor Tagen, vor Wochen.
Man stülpte die Kapuze über meinen Kopf und zog sie im Nacken eng an. Völlige Dunkelheit umgab mich, und die Luft war stickig und schal. Ich wurde auf meine Füße gestellt und Korridore entlang geführt, Treppen hoch, auf Schotter. Eine Gangway hoch. Aufs Stahldeck eines Schiffs. Meine Hände wurden hinter meinem Rücken an ein Geländer gekettet. Ich kniete mich aufs Deck und horchte auf das Dröhnen der Diesel-Maschinen.
Das Schiff setzte sich in Fahrt. Ein Hauch von Salzluft fand seinen Weg unter der Kapuze hindurch. Es regnete, und meine Klamotten wurden schwer vom Wasser. Ich war draußen, auch wenn mein Kopf noch unter einer Kappe steckte. Ich war draußen, in der Welt, Momente entfernt von meiner Freiheit.
Sie kamen, mich zu holen, führten mich vom Boot runter und über unebenen Grund. Drei Metallstufen hoch. Meine Handfesseln wurden gelöst und die Kapuze entfernt.
Ich war wieder im Truck. Frau Strenger Haarschnitt war auch wieder hier, am selben kleinen Schreibtisch wie zuvor. Sie hatte einen Reißverschlussbeutel bei sich, und darin waren mein Handy und die anderen kleinen Werkzeuge, meine Brieftasche und das Kleingeld aus meinen Taschen. Wortlos reichte sie mir alles.
Ich füllte meine Taschen. Es fühlte sich komisch an, alles wieder am vertrauten Ort zu haben, wieder in meinen vertrauten Klamotten zu stecken. Hinter der Hecktür des Trucks konnte ich die vertrauten Geräusche meiner vertrauten Stadt vernehmen.
Eine Wache reichte mir meinen Rucksack. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Ich schaute sie nur an. Sie nahm die Hand wieder runter und lächelte ein schiefes Lächeln. Dann machte sie eine Geste wie das Verschließen ihrer Lippen, zeigte auf mich - und öffnete die Tür.
Draußen wars heller Tag, aber grau und regnerisch. Ich blickte eine Gasse runter auf Autos, LKWs und Räder, die die Straße entlangsausten. Wie angenagelt stand ich auf der obersten Stufe des Trucks und starrte der Freiheit entgegen.
Meine Knie zitterten. Ich wusste jetzt, dass sie wieder mit mir spielten. Im nächsten Moment würden die Wachen mich wieder schnappen und nach drinnen zerren, die Kapuze würde wieder über meinen Kopf gestülpt, und dann würde ich wieder auf dem Boot sein und ins Gefängnis zurückgeschickt werden, zu den endlosen, nicht zu beantwortenden Fragen. Kaum konnte ich mich beherrschen, meine Faust in den Mund zu stecken.
Dann zwang ich mich, eine Stufe runterzusteigen. Noch eine. Die letzte. Meine Turnschuhe knirschten auf dem Zeug auf dem Fußboden, Glasscherben, einer Nadel, Kies. Ich ging einen Schritt. Noch einen. Ich erreichte den Anfang der Gasse und trat auf den Bürgersteig.
Niemand schnappte mich.
Ich war frei.
Dann pressten sich kräftige Arme um mich. Fast begann ich zu weinen.
Kapitel 5
Aber es war Van, und sie weinte wirklich, als sie mich so kräftig umarmte, dass ich keine Luft bekam. Egal. Ich drückte sie wieder, mein Gesicht in ihrem Haar.
"Du bist okay!", sagte sie.
"Ich bin okay", brachte ich hervor.
Schließlich ließ sie von mir ab, und ein zweites Paar Arme schlang sich um mich. Jolu! Sie waren beide hier. Er flüsterte mir "du bist in Sicherheit, Kumpel" ins Ohr und umarmte mich noch heftiger als zuvor Van.
Als er mich losließ, schaute ich mich um. "Wo ist Darryl?", fragte ich.
Sie sahen einander an. "Vielleicht noch im Truck", sagte Jolu.
Wir drehten uns um und betrachteten den Laster am Ende der Gasse. Es war ein unscheinbarer weißer Neunachser. Die kleine Falt-Treppe hatte schon jemand eingezogen. Die Rücklichter leuchteten rot, und der Truck rollte unter ständigem "piep, piep, piep" im Rückwärtsgang auf uns zu.
"Warten Sie!", schrie ich, als er in unsere Richtung beschleunigte. "Warten Sie! Was ist mit Darryl?" Der Truck kam näher. Ich schrie weiter, "was ist mit Darryl?"
Jolu und Vanessa nahmen mich bei den Armen und zerrten mich weg. Ich wehrte mich dagegen und schrie. Der Laster erreichte den Anfang der Gasse, schwenkte auf die Straße und fuhr bergab davon. Ich wollte hinterherrennen, aber Van und Jolu ließen mich nicht los.
Ich setzte mich auf den Bürgersteig, zog die Knie an und weinte. Ich weinte, weinte, weinte, lautes Schluchzen, wie ich es zuletzt als kleines Kind getan hatte. Es hörte nicht auf, und ich hörte nicht auf zu zittern.
Vanessa und Jolu halfen mir hoch und zogen mich ein Stückchen die Straße hoch. Da gabs ne
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