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Little Brother

Little Brother

Titel: Little Brother Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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Stadtbushaltestelle mit einer Bank, auf die setzten sie mich drauf. Sie weinten beide auch; so hielten wir uns ne Weile gegenseitig fest, und ich wusste, wir weinten um Darryl, den wir alle wohl nie wiedersehen würden.
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    Wir waren nördlich von Chinatown, in der Ecke, wo es in North Beach übergeht; ein Viertel mit einigen Neon-Stripclubs und dem legendären Subkultur-Buchladen City Lights, wo damals in den 1950ern die Beat-Dichterbewegung begründet worden war.
    Diesen Teil der Stadt kannte ich gut. Hier gab es den Lieblings-Italiener meiner Eltern, und sie nahmen mich gern dorthin mit auf Monsterportionen Linguine, üppige Berge italienischer Eiscreme mit kandierten Feigen und hinterher tödliche kleine Espressos.
    Jetzt war es ein anderer Ort. Ein Ort, an dem ich zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit die Freiheit schmeckte.
    Wir kramten unsere Taschen durch und fanden genug Geld, um uns einen Tisch bei einem der italienischen Restaurants erlauben zu können, auf dem Bürgersteig, unter einer Markise. Die hübsche Bedienung entzündete einen Gas-Heizpilz mit einem Grillfeuerzeug, nahm unsere Bestellungen auf und ging nach drinnen. Das Gefühl, Aufträge erteilen zu können, mein Schicksal unter meiner Kontrolle zu wissen, war das faszinierendste Gefühl, das ich kannte.
    "Wie lang waren wir da drin?", fragte ich.
    "Sechs Tage", entgegnete Vanessa.
    "Ich komm auf fünf", sagte Jolu.
    "Ich hab nicht gezählt."
    "Was haben sie mit dir gemacht?", wollte Vanessa wissen.
    Ich mochte eigentlich nicht drüber sprechen, aber sie schauten mich beide erwartungsvoll an. Und als ich dann erst mal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich erzählte ihnen alles, auch den Part, als ich gezwungen war, in die Hose zu pinkeln, und sie schwiegen die ganze Zeit. Als die Bedienung unsere Limos brachte, machte ich einen Moment Pause, bis sie wieder außer Hörweite war, dann erzählte ich zu Ende. Beim Erzählen verschwand alles irgendwie in der Ferne. Am Ende hätte ich nicht mehr sagen können, ob ich die Fakten noch überhöhte oder ob ich alles weniger schlimm darstellte, als es tatsächlich war. Meine Erinnerungen schwammen herum wie kleine Fische, die ich zu fangen versuchte, und manchmal entwischten sie meinem Griff.
    Jolu schüttelte den Kopf. "Mann, die waren hart zu dir", sagte er. Dann erzählte er uns von seiner Zeit dort. Sie hatten ihn befragt, meist über mich, und er hatte ihnen immer nur die Wahrheit erzählt, die reinen Tatsachen über diesen Tag und über unsere Freundschaft. Sie hatten es ihn wieder und wieder von vorn erzählen lassen, aber immerhin hatten sie mit ihm keine Psychospielchen gespielt wie mit mir. Er hatte in einem Kasino zu essen bekommen und sogar in einem Fernsehraum die Blockbuster des letzten Jahres auf Video sehen dürfen.
    Vanessas Story war nur ein wenig anders: Nachdem sie in Ungnade gefallen war, als sie mit mir gesprochen hatte, hatten sie ihr die Klamotten weggenommen und ihr einen orangefarbenen Gefängnis-Overall gegeben. Dann ließ man sie zwei Tage ohne Kontakt in der Zelle allein, allerdings bekam sie regelmäßig Essen. Aber hauptsächlich wars so wie bei Jolu: dieselben Fragen, noch und noch wiederholt.
    "Die haben dich echt gehasst", sagte Jolu. "Die hatten dich auf dem Kieker. Aber warum?"
    Ich konnte es mir nicht sofort erklären. Aber dann erinnerte ich mich.
    "Du kannst kooperieren, oder es wird dir sehr, sehr Leid tun."
    "Weil ich ihnen mein Telefon nicht entsperren wollte in der ersten Nacht. Deshalb haben sie mich rausgepickt." Wirklich glauben konnte ichs nicht, aber es war die einzige Erklärung. Reiner Rachedurst. Meine Gedanken verhaspelten sich geradezu in dieser Idee. Die hatten das alles bloß gemacht, um mir ne Lehre zu erteilen, weil ich ihre Autorität nicht anerkannte.
    Bisher hatte ich Angst gehabt. Jetzt war ich sauer. "Diese Arschgeigen", sagte ich ruhig. "Die wollten mir bloß einen reinwürgen, weil ich meinen Mund gehalten habe."
    Jolu fluchte, und Vanessa brauste auf Koreanisch auf, was sie nur tat, wenn sie sehr, sehr wütend war.
    "Ich krieg die", flüsterte ich in meine Brause, "ich krieg die."
    Jolu schüttelte den Kopf. "Vergiss es. Gegen so was kommst du nicht an."
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    Aber in dem Moment wollte keiner von uns groß über Rache reden. Stattdessen sprachen wir drüber, was wir als nächstes tun wollten. Wir mussten heim. Unsere Handy-Akkus waren leer, und in dieser Gegend gabs schon seit Jahren keine Münztelefone mehr. Wir

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