Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
verschwunden.
Es ging mir wie in einem Albtraum, wenn man gelähmt ist und Arme und Beine einem den Dienst versagen. Am liebsten wäre ich schreiend davongelaufen, doch ich saß völlig reglos da, während mein Herz so laut schlug, dass es alle anderen Geräusche übertönte, selbst das allgegenwärtige Ommmm.
Johnstone bekam davon gar nichts mit. Auch für die Menschen ringsum hatte sie nur arrogante Gleichgültigkeit übrig, egal, wie oft man sie aufforderte, endlich weiterzugehen. Dann trat sie an mir vorbei und wandte mir den Rücken zu. Sie wirkte angespannt, ja kampfbereit unter ihrer Jacke. Auf dem Kopf trug sie eine Strickkappe, die genauso farblos war wie der Rest ihrer Kleidung. Dann ging sie weiter und verschwand schließlich aus meinem Blickfeld.
Ange griff nach meiner Hand. »Was ist denn mit dir?«, fragte sie.
Doch ich schüttelte nur den Kopf und erwiderte den Händedruck. Ich würde ihr jetzt nicht erzählen, dass ich gerade das Schreckgespenst der Wüste gesehen hatte. Selbst wenn es wirklich Johnstone gewesen war, na und? Wie es aussah, kamen Gott und die Welt zum Burning Man – IT -Pioniere, Flüchtlinge, Dichter und ich. Ich hatte kein Teilnahmeverbot für Kriegsverbrecher gesehen.
»Nichts«, brachte ich hervor. Ich schaute mich noch einmal nach Johnstone um, konnte sie aber nicht mehr entdecken. Dann richtete ich den Blick wieder auf den brennenden Tempel und suchte nach der Ruhe, die ich bis vor Kurzem noch empfunden hatte.
Bis der Tempel irgendwann niedergebrannt war, hatte ich mich beinahe davon überzeugt, dass Johnstone nur eine Einbildung gewesen war. Schließlich war es dunkel gewesen, das einzige Licht das hektische Flackern der Flammen. Ihr Gesicht war weitgehend von der Kamera verdeckt gewesen, und ich hatte es auch nur ganz kurz und von unten gesehen. Außerdem hatte ich mich gerade kurz zuvor den Geistern meiner Vergangenheit gestellt, hatte die Gesichter alter Freunde in den Flammen des Tempels zu sehen geglaubt, Freunde, die verschwunden und verraten oder gerettet worden waren. Wie wahrscheinlich war es denn, dass Carrie Johnstone beim Burning Man auftauchte? Das war, wie Attila den Hunnenkönig beim Yoga zu treffen. Oder Darth Vader beim Frisbeewerfen im Park. Megatron als Praktikanten auf der Kinderstation einer Klinik …
Mir diese Vergleiche auszudenken – irgendwann kam ich bei »Mein kleines Pony« an, aber das führt jetzt zu weit – half mir, mich wieder zu beruhigen. Mittlerweile war der Tempel abgebrannt, und Ange und ich hatten uns mit dem Rest der stillen, feierlichen Prozession auf den Rückweg gemacht.
»Morgen geht’s nach Hause«, sagte ich.
»Der Exodus«, erwiderte Ange. So nannte man das hier, und anscheinend war es eine wirklich große Sache – Tausende Autos und Campingwagen, meilenweit gestaut, die nur in stündlichen Intervallen losfahren durften, damit der Verkehr nicht zusammenbrach. Wir hatten einen Mitfahrplatz bei Lemmy vom Noisebridge, einem Hackerspace in San Francisco, in dem ich öfters mal herumhing. Ich kannte Lemmy nicht sonderlich gut, doch wir wussten, wo sein Zelt stand, und waren morgens um sieben mit ihm zum Packen verabredet. Die Uhrzeit war zwar hart, aber ich hatte meine Geheimwaffe am Start, meinen Beitrag zur Geschenkökonomie des Festivals: kalt gebrühten Kaffee.
Heiß gebrühten Kaffee kennt natürlich jeder, und je nachdem, wer ihn wie zubereitet, kann warmer Kaffee ja auch wahnsinnig gut sein. Man muss jedoch sagen, dass wirklich guter Kaffee zum Schwierigsten gehört, an dem man sich versuchen kann. Selbst mit teuren Bohnen, der richtigen Röstung und gutem Equipment: Nur etwas zu heiß, falsch gemahlen oder zu lange gekocht, und man hat eine Tasse voll Bitterstoffe. Kaffee enthält alle möglichen Säuren, und je nach Zubereitungsart kann man auch zu viel davon aus den Bohnen lösen. Oder man erhitzt oder oxidiert sie zu stark und hat im Ergebnis diesen wüsten Geschmack, den man zum Beispiel von Starbucks kennt.
Doch es gibt noch den anderen Weg : Wenn man Kaffee mit kaltem Wasser zubereitet, extrahiert man nur die mildesten Inhaltsstoffe, diese flüchtigen Aromen nach Schokolade und Karamell, die andernfalls verfliegen oder sauer werden. »Kalt gebrüht« klingt komisch, aber eigentlich ist es die einfachste Methode, eine Tasse (oder Kanne) Kaffee zumachen.
Man muss ihn bloß mahlen – möglichst grob, etwa wie Meersalz – und mit der doppelten Menge Wasser in ein luftdichtes Gefäß geben. Einmal fest
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