Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
so, als wäre ich allein in der Wüste, allein mit dem Tempel und all den Erinnerungen und Abschiedsworten darin. Ein Widerhall des Gefühls von der Meditation kehrte zurück, als ich im Innern des Tempels gesessen und einfach nur im Hier und Jetzt gelebt hatte. Der Tempel hatte eine beruhigende Wirkung auf mich; er brachte all die Stimmen meiner Erinnerungen zum Verstummen. Ich glaube nicht an Geister oder Götter, und ich glaube auch nicht, dass der Tempel irgendwelche über natürlichen Kräfte hatte. Seine Wirkung war etwas ganz Natürliches. Ich fühlte mich traurig und hoffnungsvoll und ruhig, und irgendwie, na ja, aufgehoben .
Nicht nur mir ging es so: Wir saßen alle da und schauten zum Tempel, und alle flüsterten, wie man im Museum oder in einer Kirche flüstert. Die Zeit zog sich dahin. Ein paar Mal wäre ich beinahe eingedöst. Dann wieder war mir, als könnte ich jede Pore, jedes Härchen meines Körpers spüren. Ange streichelte mir den Rücken, und ich ihr das Bein. Ich schlug die Augen wieder auf und studierte die Gesichter um uns herum. Manche waren ausdruckslos, andere weinten, wieder andere lächelten in tiefer, innerer Ruhe. Der Wind spielte mit meinem Umhang.
Und dann entdeckte ich sie, drei Reihen hinter uns, händchenhaltend: Masha und Zeb. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, denn Masha hatte den Kopf auf Zebs Schulter gelegt und wirkte verletzlich, ja, traurig. Es passte so gar nicht zu ihrer üblichen anmaßenden, zornigen Ungeduld, und ich schaute rasch weg, ehe unsere Blicke sich trafen, denn es kam mir so vor, als würde ich in ihre Privatsphäre eindringen.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit gerade rechtzeitig wieder auf den Tempel, um die ersten Flammen im Innern emporzüngeln zu sehen. Papier knisterte, und ich hielt den Atem an. Dann schoss mit lautem Zischen eine riesenhafte Feuersäule aus dem Atrium auf, sicher hundert Meter hoch. Sie war so heiß und hell, dass ich das Gesicht abwenden musste. Die Menge seufzte wie aus einem Mund, und ich mit ihr.
Da lief auf einmal eine kräftige Frau mit einer Schutzbrille in grauer, militärisch wirkender Kleidung durch die Reihen. Sie bewegte sich mit einer merkwürdigen Zielstrebigkeit und hielt eine kleine Videokamera vors Gesicht. Die Menschen protestierten, wenn sie über sie hinwegtrat oder ihnen die Sicht nahm. Dann erklangen die ersten Rufe: »Hinsetzen!«, »Runter da vorne!« und »Gaffer!« – die letzte Bemerkung durchaus böse gemeint und auch sehr treffend, so eingenommen, wie sie von ihrer Kamera war.
Ich wandte den Blick ab, wollte mich nicht von ihr ablenken lassen. Das Feuer hatte sich mittlerweile durch den ganzen Tempel gefressen, und jemand neben mir holte tief Luft und stieß ein tiefes, sonores »Ommmmmm« aus, das mir in den Ohren brummte. Jemand anders stimmte mit ein, dann noch jemand, und schließlich auch ich. Der Klang war wie ein lebendiges Wesen, das mir durch Brust und Schädel wanderte und mich mit Ruhe erfüllte. Es war genau, was ic h brau chte, und als meine Stimme in diesem Augenblick mit allen anderen verschmolz, fühlte ich mich als Teil von etwas viel Größerem als ich selbst.
Ein scharfer Schmerz in meiner Hüfte riss mich zurück. Neben mir stand die Frau mit der Kamera. Sie filmte die Menge um das Feuer und hatte mich wohl aus reiner Unachtsamkeit getreten. Verärgert schaute ich zu ihr auf und wollte schon eine spitze Bemerkung machen, als ich vor lauter Entsetzen auf einmal regelrecht erstarrte.
Denn ich kannte dieses Gesicht. Ich hätte es niemals vergessen können.
Ihr Name war Carrie Johnstone. Vorher war sie für mich nur »Ms. Zirkelschnitt« gewesen. Das letzte Mal persönlich getroffen hatten wir uns, als sie mich auf ein Brett hatte schnallen lassen und einem Soldaten, kaum älter als ich, den Befehl zum Waterboarding gegeben hatte. Es war, was man eine simulierte Hinrichtung nennt. Sie hatte mich foltern lassen.
Noch Jahre später hatte sie mich in meinen Albträumen heimgesucht und mich verspottet; mich mit scharfen Klauen zerrissen; mich mit einem Sack über dem Kopf erstickt; mir endlos Fragen gestellt und mich geschlagen, wenn ich die Antwort nicht wusste.
Ein Militärtribunal hatte sie später unter Ausschluss der Öffentlichkeit von jeder Schuld freigesprochen und nach Tikrit versetzt, wo sie beim Abzug aus dem Irak helfen sollte. Ich hatte einen News Alert für sie eingerichtet, aber nie mehr von ihr gehört. Für mich hatte es ganz so ausgesehen, als wäre sie
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