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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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gewissenhaft meine Mimik und Kusstechnik dokumentierte. Oder doch ein stiernackiger Söldner, der von den peinlichsten Momenten Screenshots absavte, damit Carrie Johnstone was zum Lachen hatte?
    Es war gespenstisch still im Büro. Die Straßengeräusche wurden vom Summen der Ventilation überdeckt. Ich schaute direkt in die Webcam und fing an zu sprechen: »Du bist da drin, oder nicht? Das ist ganz schön unheimlich. Wenn du glaubst, mir damit einen Gefallen zu tun, dann muss ich dir leider sagen, dass es mich fertigmacht. Es wäre mir deutlich lieber, wenn du mit mir reden würdest, statt mir hinterherzuspionieren. Und wenn du einer der Bösen bist, dann fick dich doch selbst. Nichts, was du tust, kann verhindern, dass die Darknet-Docs veröffentlicht werden. Und wenn ich zu viel Schiss kriege oder abhauen muss, dann stell ich einfach alles ins Netz. Kapiert? Bist du da?«
    Mann, kam ich mir vielleicht bescheuert vor. Ein bisschen wie damals, als ich mit zehn oder elf Jahren probiert hatte, vorm Schlafengehen zu beten, und auf einmal schreckliche Angst bekam, dass Gott, wenn er denn existierte, wahrscheinlich verdammt sauer auf mich und meine Familie war, weil wir nicht an ihn glaubten. Zwar glaubte ich tatsächlich nicht an ihn, aber in diesem schwachen Moment stellte ich eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Es kostet mich nichts, an ihn zu glauben. In dem sehr unwahrscheinlich Fall, dass es ihn doch gibt, wird er meinen Unglauben aber mit ewiger Verdammnis strafen. Das Risiko ist gering, die Konsequenzen aber schrecklich. Wäre es da nicht sinnvoll, mich für den Fall der Fälle etwas abzusichern? Mein Dad hatte damals gerade die Versicherung gewechselt, und ein Sachverständiger hatte sich unser Haus angesehen und sich mit uns über die Wahrscheinlichkeit von Hochwasser, Feuer, Blitzschlag und Erdbeben unterhalten. Um die Frage zu entscheiden, ob wir einen Schutz gegen all das bräuchten, hatten Dad und ich uns die volle Breitseite mit Wahrscheinlichkeitsrechnung gegeben, alles streng nach Richard Price, einem Freund und Förderer des englischen Mathematikers Thomas Bayes, der einer der persönlichen Helden meines Vaters ist. So gesehen hatte ich ein wenig Ahnung von Versicherungen.
    Sobald mir dieser verstörende Gedanke einmal gekommen war, hatte er mich auch schon fest im Griff. Ich wurde einfach das Gefühl nicht los, dass ich vielleicht die falsche Versicherung abgeschlossen hatte (indem ich nicht an den richtigen Gott glaubte) oder meine Beiträge nicht verlässlich genug zahlte (indem ich zu beten vergaß). Eine ganze Woche lang empfand ich wegen meiner religiösen Inkompetenz unterschwellig eine gewisse Panik, und nachts im Bett war es immer am schlimmsten.
    Also war ich eines Nachts noch mal aufgestanden, obwohl ich mir total blöd dabei vorkam, hatte mich neben das Bett gekniet, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Die Kinder in alten Cartoons machten das immer so – ich glaube, Donald Duck ließ seine Neffen so beten, vielleicht war es aber auch Popeye gewesen – , für mich aber war es das erste Mal.
    Ich suchte nach den passenden Worten. »Bitte, Gott«, fiel mir als Erstes ein. »Bitte, Gott, bitte bring uns nicht um. Bitte mach, dass wir glücklich und gesund sind. Bitte sag Darryls Dad, dass er ihn dieses Wochenende bei mir übernachten lassen soll. Bitte hilf mir bei meiner Geschichtsarbeit … « Kaum hatte ich damit angefangen, wurde mir klar, dass es eine ganze Litanei von Dingen gab, die mir Sorgen machten. Ich war mir dessen bislang nicht bewusst gewesen; nun aber hoffte ich, dass irgendein unsichtbarer, allmächtiger Daddy im Himmel meine Probleme für mich regelte. Es brach nur so aus mir hervor. Erst als leises Gespräch, dann senkte ich meine Stimme zu einem Flüstern, bis ich schließlich nur noch stumm die Lippen bewegte, so wie man sich beim Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagstorte etwas wünscht.
    Und dann, als mir die Wünsche endlich ausgingen und ich »Amen« gesagte hatte, schlug ich die Augen auf. Meine Knie taten weh. Es hatte gutgetan, mir die ganzen Sorgen von der Seele zu reden, und es hatte mich überrascht, wie viele es waren, doch nichtsdestotrotz kam ich mir absolut lächerlich vor. Wenn es einen Gott gab, wieso sollte es ihn jucken, ob Darryl dieses Wochenende bei mir übernachtete oder nicht?
    Den Ausschlag aber gab das Ausbleiben einer Antwort. Ich hatte all meine geheimen Ängste und Sorgen ausgesprochen, darunter vieles, von

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