Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Ruhe verdauen. Dann schickte Mom mich los – um die Süßigkeitenvorräte aufzustocken, mit denen sie ihre jüngste Tochter beschwichtigen wollte. Während Mom und ich noch darüber diskutierten, ob ich im Fall der Butter Nutters die Marken- oder die Discountware kaufen sollte, klingelte mein Handy.
»Hallo?«
»Izzy, hier spricht Milo, vom Philosopher’s Club.«
»Was ist los?«
»Nicht weiter schlimm, aber deine Schwester ist hier, und ich kann sie nicht dazu bewegen, nach Hause zu gehen. Könntest du sie bitte abholen?«
»Meine Schwester?«
»Ja, Rae, so heißt sie doch?«
»Bin gleich da.«
Zwanzig Minuten später stürmte ich in Milos Bar, wobei ich zunächst im Eingangsbereich blieb, um die herzzerreißenden Appelle meiner Schwester auf mich wirken zu lassen.
»Mein Notendurchschnitt liegt bei Zwei minus! Und das heißt nicht Eins in Sport und Vier in Mathe, sondern Zwei minus quer durch alle Fächer. Ich hab gesagt, ich bin verhandlungsbereit. Ich hab gesagt, ich bin flexibel und verhandlungsbereit. Ich hab sogar angeboten, dass wir uns einen Schlichter dazuholen. Aber das hat nichts gebracht. Gar nichts. Die geben nicht einen Millimeter nach.«
Ich tippte Rae auf die Schulter. »Komm mit.«
»Ich habe noch nicht ausgetrunken«, erwiderte sie kühl. Angesichts der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihrem Glas warf ich Milo einen fragenden Blick zu.
»Ginger-Ale.« Er konnte Gedanken lesen.
An Raes statt trank ich das Glas aus.
»Jetzt können wir. Auf geht’s!« Ich packte sie hinten am T-Shirt-Kragen und zog sie vom Barhocker.
Im Auto war Rae auf einmal stumm – auf hoffnungslose, ergreifende Weise stumm.
»Ich muss ins Lager, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und ich kann nichts dagegen tun?«
»Gar nichts.«
Von da an schien sich Rae mit ihrem Schicksal abzufinden. Den Rest der Woche brachte sie keinen Protestlaut mehr über die Lippen. Während der zweistündigen Fahrt durch das Wine Country und über die steinige Auffahrt zum Camp Winnemancha betrieb sie entspannte Konversation. Unsere Mutter hatte Rae beigebracht, Ort, Zeit und Waffen für ihre Schlachten mit Bedacht zu wählen. Und genau daran sollte sie sich halten.
Mit dem Telefon fing es an – stündliche Anrufe voll aufrichtiger Verzweiflung: »Holt mich hier raus, sonst geht mein ganzes Collegegeld für den Psychiater drauf.« – »Ich meine esernst. Wenn ich auch nur einen Tag mehr in dieser Hölle verbringen muss, werdet ihr es bitter bereuen.« Irgendwann wurde Raes Handy – das für Notfälle gedacht war – beschlagnahmt. Sie nutzte die frei gewordene Zeit, um sich zu sammeln und neue Strategien zu entwickeln.
Als Nächstes startete sie die Briefoffensive. Wenn er sich abends entspannen wollte, trank Dad ein Bier und las dabei aus Raes Klageepisteln vor:
Meine über alles geliebte Familie,
rein theoretisch ist so ein Ferienlager bestimmt eine tolle Sache. Doch für mich ist es wohl nicht das Richtige. Sollten wir uns da nicht lieber geschlagen geben und das Ganze abblasen?
In Vorfreude darauf, Euch morgen zu sehen, wenn Ihr mich abholt, und mit all meiner Liebe
Rae
Raes zweiter Brief traf am gleichen Tag ein wie der erste:
Meine innig geliebte Familie,
inzwischen habe ich mit Mr. Dutton, dem Camp-Leiter, erfolgreich ausgehandelt, dass er Euch die Hälfte der Gebühr erstattet, wenn Ihr mich morgen abholt. Darauf hat er mir sein Wort gegeben. Sollte Euch am Geld immer noch mehr gelegen sein als an meinem seelischen Wohlbefinden, bin ich bereit, für die andere Hälfte aufzukommen, indem ich bis Ende der Sommerferien unentgeltlich für Euch arbeite. Ich freue mich darauf, Euch morgen zu sehen, wenn Ihr mich hier endlich rausholt.
Liebe Grüße
Rae
PS: Ich füge eine Wegbeschreibung bei und einen Zwanzig-Dollar-Schein (Benzingeld)
Da ließ sich die zweite Telefonattacke schon deutlich anders an. Dienstag, 5.45 Uhr:
Hey, ich schon wieder. Danke für die Schokoriegel, aber da ich in den Hungerstreik getreten bin, habe ich dafür keine Verwendung. Wenn ihr diese Nachricht innerhalb von zehn Minuten abhört, erreicht ihr mich unter ...
Unser Vater spult zur nächsten Nachricht vor. Dienstag, 7.15 Uhr:
Offenbar betreiben die hier einen verdeckten Menschenhandel. Dieser Hinweis steht Euch zur freien Verfügung. O-oh, ich sollte besser von hier verschwinden ...
Die nächste Nachricht wurde erst in der Nacht zu Mittwoch hinterlassen, um 3.42 Uhr:
Hey, Rae hier. Ich hab mich getäuscht. Hier ist es gar nicht so übel. Gerade
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