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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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Und so ließ ich sie auf dem Treppenabsatz zurück. Sollte sie ihrem Onkel doch allein nachspionieren.
    Auf den Stufen vor der Eingangshalle stieß ich mit Onkel Ray zusammen, der einen schlampig gepackten Seesack schleppte. Ich nahm ihm das Ding von der Schulter und fragte nach dem Inhalt.
    »Mal überlegen: Ein Wintermantel, zwei Paar Schuhe, eine Bowlingkugel ... und noch ein paar Sandwiches von heute Morgen, irgendwie musste ich die Reste aus dem Kühlschrank verwerten.«
    »Beim nächsten Mal bittest du einfach Mom, dir beim Packen zu helfen.« Ich schleppte den Sack hoch und legte ihn auf Davids – nunmehr Onkel Rays – Bett.
    »Schön, dass du bei uns bist, Onkel Ray.«
    Er kniff mir in die Wange. »Du warst schon immer meine liebste Teampartnerin.«
    Während Ray auszupacken begann, lehnte ich mich gegen das Fensterbrett. Wahllos zog er Gegenstände aus dem formlosen Sack und verteilte sie ohne ersichtlichen Sinn und Zweck überall im Zimmer. Nur mit einer Sache ging er behutsam um:Unter diversen Lagen immer kleiner werdender Handtücher kam ein geschmackvoll gerahmtes Foto des Spellman-Clans zum Vorschein. Onkel Ray stellte das Bild auf der Kommode ab und rückte es zurecht. In meinem Elternhaus befinden sich haufenweise Fotos, doch kein einziges, auf dem alle Familienmitglieder versammelt sind. Dieses Bild erinnerte mich lediglich daran, was für einen merkwürdigen Eindruck wir machen, wenn wir zusammen sind.
    Durch ihre langen Haare und ihre zierlich-sportliche Gestalt wirkt meine Mutter mindestens zehn Jahre jünger als vierundfünfzig. Ihre scharfen, ebenmäßigen Züge halten dem Zahn der Zeit gut stand. Dafür lassen Dads schütteres Haar und üppiger Wanst ihn älter erscheinen; seinen disharmonischen Gesichtszügen verleihen allein die Falten so etwas wie eine Einheit. Onkel Ray hat nur eins mit Albert gemeinsam: die breite, leicht abgeflachte Nase. Sonst ist er schlanker, schöner und blonder als mein Vater. Daneben erstrahlt David in modelhafter Perfektion, sie bildet einen starken Kontrast zu Rae, die im Grunde eine winzige niedliche Version ihres Onkels darstellt. Sie ist das hellste der drei Spellman-Kinder, dunkelblond, mit graublauen Augen und Sommersprossen, die kreuz und quer über ihr meist sonnengebräuntes Gesicht verstreut sind. Turmgleich überrage ich Rae, als grobschlächtigere Ausgabe meiner Mutter.
    Nachdem Onkel Ray das Bild entstaubt hatte, beschloss er, eine Pause einzulegen, erschöpft von den fünf Minuten Auspackerei. Er bot mir eins von seinen Sandwiches an. Ich lehnte ab. Stattdessen wollte ich Dad lieber eine Warnung zukommen lassen.
    Ich traf ihn an seinem Schreibtisch an.
    »Die Kurze ist auf dem Kriegspfad. An deiner Stelle würde ich so schnell wie möglich eingreifen.«
    »Steht es so schlimm?«
    »Alarmstufe 1, wenn du mich fragst.«Nachmittags schaute ich bei David im Büro vorbei, um einen Observationsbericht abzugeben. Es ging um den Fall Mercer (ein Finanzanalyst wurde verdächtigt, Insidergeschäfte zu betreiben). Diesen Bericht konnte ich so zeitig vorlegen, weil die Zielperson jeden Tag das Gleiche tat, sieben Tage die Woche. Fitnessstudio. Arbeitsplatz. Zuhause. Schlafen. Und wieder alles von vorn. Gewohnheitstiere sind mir die Liebsten. Sie machen es einem sehr viel leichter.
    Als ich mich bei Davids Sekretärin Linda anmelden wollte, erklärte sie mir, er lasse sich gerade die Haare schneiden. Unbeirrt betrat ich sein Büro und sah, dass er sich die Haare von meiner besten Freundin schneiden ließ: Petra.
    »Was machst du denn hier?«, fragte Petra beiläufig.
    »Ich gebe einen Observationsbericht ab. Warum schneidest du meinem Bruder die Haare?«
    »Dafür könnte ich dir zweihundertfünfzig gute Gründe nennen«, erklärte Petra, die offenbar in die nächsthöhere Steuerklasse aufgestiegen war.
    Ich tat so, als sei ich von Davids Maßlosigkeit schockiert. Dabei war ich nicht im mindesten überrascht.
    »Musstest du ihr unbedingt verraten, was du von mir bekommst?«, fragte David.
    »Stylisten unterliegen keiner Schweigepflicht.«
    »Wie lange läuft das schon?«, fragte ich.
    Die beiden tauschten einen Blick, um die Antwort abzustimmen. Was für eine Enttäuschung. Von Freunden und Verwandten hätte ich eine subtilere Vertuschungstaktik erwartet.
    Mit einem theatralischen Seufzen sagte ich: »Lasst stecken.« Dann knallte ich den Observationsbericht vor David auf den Tisch und stiefelte zur Tür. »Trotzdem ist mir nicht klar, was diese Geheimnistuerei

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