Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Rae schwang ihren Schuh auf den Boden zurück und funkelte Onkel Ray wieder einmal zornig an. Ich beschloss, meiner Schwester einen sachdienlichen Hinweis zu geben.
»Rae, dir ist vielleicht entgangen, dass du heute bestochen wurdest. Diese Hightech-Überwachungskamera, die du bekommen hast, ist kein Geschenk. Glaub das ja nicht. Du hast sie bekommen, damit du deinem Onkel halbwegs höflich begegnest, solange er bei uns wohnt.«
Sie glaubte mir nicht. Halb grinste sie, in Erwartung einer Pointe. Als keine kam, sah sie die Tischgesellschaft fragend an, bis sie sich schließlich an Dad wandte:
»Stimmt das?«
»Ja, Schätzchen. Jedes Wort.«
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Es begann, als Rae dreizehn war, doch ich nahm nicht weiter Notiz davon. Eine Zeitlang ging es allen so. Dabei tat Rae es nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien, bei schönem Wetter, wenn sie Lust auf eine Fahrradtour oder einen Spaziergang hatte. Durch Onkel Rays Zuzug stand nun ein weiteres voll einsatzfähiges Arbeitstier zur Verfügung. Das hieß noch lange nicht, dass er sich über Gebühr anstrengte – im Gegenteil –, und doch schien es sinnvoll, statt Rae Onkel Ray einzuspannen, egal ob diese Entscheidung nun bewusst oder unbewusst getroffen worden war. Für den Einsatz einer vierzehnjährigen Schülerin konnte man höchstens 25 Dollar pro Stunde in Rechnung stellen, plus Spesen. Für den Einsatz eines ehemaligen Inspektors des San Francisco Police Departmentkonnten wir hingegen 50 Dollar pro Stunde verlangen. Außerdem hatte Ray einen Führerschein, und er war in der Lage, in ein Einmachglas zu pinkeln (eine geschlechtsspezifische Gabe, deren Vorzug nicht unterschätzt werden darf). Das waren drei gute Gründe, Onkel Ray gegenüber Rae den Vorzug zu geben, zumal er sich meist von Bars fernhielt, solange er seine Zehnstundenschicht absolvierte. Außer seiner Nichte selbst nahm allerdings niemand zur Kenntnis, dass ihre Einsätze in den letzten paar Monaten deutlich nachgelassen hatten. Und außer mir nahm niemand zur Kenntnis, wie sie diesen Verlust kompensierte.
Seit ihrem vierzehnten Geburtstag musste Rae am Wochenende spätestens um 22.00 Uhr zu Hause sein, an Schultagen zwei Stunden früher. Bis vor kurzem hatte sie diese Zeiten stets eingehalten. Ihre einzigen Schulfreundinnen – Arie Watt und Lori Freeman – mussten deutlich eher als sie zu Hause sein. Und so kam Rae an den meisten Schultagen gegen 17.00 Uhr heim, manchmal auch 19.00 Uhr, wenn sie mit Arie oder Lori Schulaufgaben gemacht hatte; am Wochenende verließ sie das Haus nur, wenn sie einen Einsatz hatte, ins Kino wollte oder mit einer ihrer beiden Freundinnen etwas Bestimmtes unternahm. Selten schlief sie mal außer Haus (dann immer bei Lori), noch seltener ging sie zu Partys, die ohnehin stets von einigen Eltern überwacht wurden. Für Rae gab es im Grunde nichts Schöneres als die eigenen vier Wände, in die sie sich so oft wie möglich zurückzog; ähnlich geborgen fühlte sie sich sonst nur im Observationsbus.
Deshalb roch ich sofort Lunte, als Rae begann, erst auf den letzten Drücker nach Hause zu kommen, rot und verschwitzt, weil sie rennen musste, um Schlag 20.00 Uhr da zu sein. Natürlich hätte ich sie fragen können, was los war. Aber das ist nicht unser Stil. Stattdessen heftete ich mich an ihre Fersen.
Rae hatte den Notendurchschnitt von Zwei minus geschafft, den meine Eltern als Minimum verlangten. Dafür hatte sie außerhalb der Schule so gut wie nichts getan. Ich nahm die Beschattungan einem Nachmittag nach Schulschluss auf. Rae schwang sich aufs Rad und fuhr zur Polk Street. Nachdem sie das Schloss sorgfältig durch Vorderrad und Rahmen geführt hatte, wie Dad ihr das beigebracht hatte, setzte sie sich auf eine Bank und holte ein Schulbuch hervor. Für den unbeteiligten Betrachter sah es ganz danach aus, als warte sie lernend auf den Bus – das Buch, ihre Schuluniform, die Haltestellenbank waren Beweis genug. Doch ich wusste, dass sie nach einer geeigneten Zielperson Ausschau hielt. Ein paar Minuten später trat eine Frau Anfang dreißig aus dem Buchladen von schräg gegenüber, mit einer auffallend großen Handtasche. Sie zog ein paar Blätter daraus hervor, riss das Papier in Stücke und warf diese hektisch in den Abfallbehälter neben Rae.
Die fahrigen Gesten dieser Frau, ihr nervöses Auftreten, weckten das Interesse meiner Schwester. Sie schlug ihr Buch zu, als die Frau ihren Weg fortsetzte,
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