Little Miss Undercover - Ein Familienroman
wartete die obligatorischen zwanzig Sekunden und folgte ihr. Ich parkte immer noch an der gegenüberliegenden Straßenecke. Rasch startete ich den Wagen und bog in die Polk Street ab, dabei fuhr ich so langsam wie möglich, bis ich Rae eingeholt hatte. Als meine Schwester die Straße überquerte, wendete ich schnell.
»Willst du mitfahren?«, fragte ich, noch während ich das Fenster herunterkurbelte. Sie wusste, dass ich ihr gefolgt war. Sie wusste, dass ich wusste, was sie so trieb. Die Gleichung, die Rae gerade im Kopf löste, hätte ich zur selben Zeit an die Tafel malen können. Das Offensichtliche zu leugnen, war nicht Raes Art. Anders als ich gab sie sich geschlagen, wenn sie keinen anderen Ausweg sah. Klug, wie sie war, wollte sie nicht noch mehr Verdacht erregen.
»Danke. Ich hatte wirklich keine Lust zu laufen«, sagte sie beim Einsteigen.
Ich schwieg. Vielleicht war das gerade eine Ausnahme. Und selbst wenn meine Schwester nach der Schule manchmal wildfremden Menschen folgte, konnte man das doch als gutes Training bezeichnen, oder nicht?
Die nächsten paar Wochen ließ ich die Zügel schleifen, während sie immer öfter auf den allerletzten Drücker nach Hause kam. Dann schien Rae ihre Hobby-Beschattungen aufgegeben zu haben. Plötzlich war sie vor dem Dinner zu Hause und verbrachte den größten Teil des Abends in ihrem Zimmer. Unsere Eltern erklärten sich diesen Rückzug damit, dass Rae ihrem Onkel aus dem Weg gehen wollte. Doch ich war keineswegs bereit, jemandem so leichtfertig zu vertrauen, der die gleichen Gene hatte wie ich.
Meine Dachgeschosswohnung liegt genau über ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock. Von außen sind beide Räumlichkeiten über eine Feuerleiter miteinander verbunden. Als Rae fünf war, erwischte sie mich einmal dabei, wie ich nachts ausbüchste, und entdeckte zugleich einen weiteren Zugang zu meinem Zimmer. Ich brachte sie schleunigst davon ab, nicht nur, weil es für sie gefährlich war, sondern auch, weil mein Bett direkt unterm Fenster steht und Raes nächtliche Besuche stets kleine Fußspuren auf meinem Gesicht hinterließen.
Sechs Monate früher
Kurz vor sieben Uhr morgens hörte ich die Feuerleiter leise quietschen. Gerade als ich aus dem Fenster sehen wollte, klingelte das Telefon.
»Hallo?«
»Hallo, spreche ich mit Isabel?«, fragte eine männliche Stimme.
Normalerweise gehe ich auf solche Fragen nicht ein, aber immerhin war das mein Privatanschluss.
»Ja. Mit wem spreche ich?«
»Hi. Ich heiße Benjamin MacDonald. Ich habe in der Bibliothek Ihre Mutter kennengelernt.«
»In der Bibliothek?«
»Ja.«
»In welcher Bibliothek?«
»In der Zentralbibliothek. Stadtmitte.«
»Was hat sie dort gemacht?«
»Nach Büchern gesucht, nehme ich an.«
»Hatte sie Bücher bei sich?«
»Ich denke schon.«
»Wissen Sie noch, welche?«
»Nein.«
»Können Sie sich nicht wenigstens an einen Titel erinnern?«
»Nein. – Wie auch immer, der Grund meines Anrufes ...«
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Wo?«
»In der Bibliothek.«
»Ach so. Ich musste was recherchieren.«
»Was Juristisches?«
»Ja, in der Tat.«
»Sie sind also Anwalt?«
»Ja. Und ich dachte, wir beide könnten vielleicht ...«
»Kaffee trinken?«
»Ja genau, Kaffee.«
»Die Antwort ist nein. Mit Anwälten trinke ich keinen Kaffee mehr. Darf ich Ihnen aber eine Frage stellen, bevor wir auflegen?«
»Sie fragen doch schon die ganze Zeit.«
»Stimmt. Was hat Ihnen meine Mutter über mich erzählt?«
»Nicht viel.«
»Wieso rufen Sie dann überhaupt an?«
»Sie hat mir zwanzig Prozent Rabatt auf alle Hintergrundrecherchen angeboten.«
Ich knallte den Hörer auf und rannte nach unten.
»Mom, jetzt rufen wir die Herren in den weißen Kitteln. Du gehörst genauso weggesperrt wie Blanche DuBois.«
Meine Mutter klatschte begeistert. »Hat Benjamin dich angerufen?«
»Ja. Und das tut er garantiert nie wieder.«
»Tja, Isabel. Das war’s dann wohl mit deiner Gehaltserhöhung.«
»Das hattest du doch gar nicht ernsthaft vor.«
»Doch, doch. Falls du dich auf ein Date mit Benjamin eingelassen hättest. So natürlich nicht.«
»Ich kann mir meine Dates selbst organisieren, Mom.«
Sie rollte mit den Augen: »Na klar.« Dann wechselte sie das Thema, im Wissen, dass alles beim Alten bliebe. Sie würde weiterhin Anwälte für mich aus dem Hut zaubern, und ich würde weiterhin nur mit Männern ausgehen, die beim Trinken mit mir mithalten konnten.
»Morgen ziehe ich dich von der
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