Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Daniel. Hin und wieder winkte ich einer wildfremden Person zu, die, der erschöpften Miene nach, vermutlich im Schuldienst tätig war, und rief: »Bis nächste Woche, Susie« oder »Kurier deine Erkältung aus, Jim.« Daniel bemerkte gar nicht, wie befremdet diese Leute reagierten. Er nahm mir die ganze Scharade ab. Warum auch nicht? Die Wahrheit war viel merkwürdiger als das, was ich hier inszenierte.
Bald hatte ich mich so daran gewöhnt – an die rollende Umkleidekabine, die ich stets neben irgendwelchen Schulen parkte –, dass ich diese Stunts eher als sportliche Betätigung ansah und nicht mehr als Vorspiegelung falscher Tatsachen. Meine Bestzeit betrug 3 Minuten 25 Sekunden für einen komplettenGarderobenwechsel. Mein schlechtestes Ergebnis war 8 Minuten 50 Sekunden, als sich ein Zipfel meiner Leinenbluse in den Reißverschluss meines Wollrocks verfing. Bereits in der ersten Woche nach den ersten normalen Verabredungen mit Daniel befand Petra meine Kostümierung für übertrieben – als verkörperte ich die Bühnenversion einer Schulmeisterin. Doch diese Verkleidung half mir ja gerade, mich auf die Rolle zu besinnen. In meinem Fall machten Kleider nicht die Frau aus, sondern die Illusion. Und ich empfand deswegen nicht die leisesten Gewissensbisse, obwohl sie durchaus angebracht gewesen wären. Das änderte sich erst, als ich mich eines Tages unwillkürlich im Rückspiegel erblickte: Ein Pulliärmel hatte sich so fest verknotet, dass ich mich hilflos auf dem Rücksitz hin und her wälzte – als Geisel meiner eigenen Kleidung.
Es wurde allmählich Zeit, Daniels unerwarteten Lunchattacken ein Ende zu setzen. Um dennoch seinen Wunsch nach Spontaneität und meine Lust auf Restaurantbesuche zu befriedigen, gewöhnte ich mir an, immer dann bei Daniel in der Praxis vorbeizuschauen, wenn ich gerade in der Nähe und passend angezogen war. Da Vertretungen bekanntlich über flexible Stundenpläne verfügen, schwante ihm weiterhin nichts Böses.
Als er mir beim ersten Mal Mrs. Sanchez vorstellte, seine sechzigjährige Sprechstundenhilfe, Büroleiterin und Allround-Schutzheilige, musterte sie mich von Kopf bis Fuß und bedachte mich mit einem höflichen Lächeln. Dann raunte sie Daniel etwas auf Spanisch zu.
Bei meiner zweiten »Stippvisite«, etwa sechs Wochen nachdem Daniel und ich miteinander angebändelt hatten, forderte Mrs. Sanchez mich auf, für ein Viertelstündchen Platz zu nehmen, da Daniel gerade einen Patienten behandelte. Da beging ich den Fehler, mich auf Small Talk einzulassen.
»Daniel hat mir erzählt, dass Sie Lehrerin sind und als Aushilfe arbeiten«, sagte Mrs. Sanchez.
»Hat er das? Wie kommt er darauf?«
Schweigen.
»War nur ein Witz«, erklärte ich. Witzig konnte man das aber kaum nennen, und es ist kein gutes Zeichen, wenn das Gegenüber nicht mal anstandshalber lacht. »Ja, ich bin Lehrerin. Zurzeit aber nur als Vertretung. Mögen Sie Kinder auch so gern?«
»Ja«, antwortete sie. »Ich habe drei Enkelkinder.«
»Toll«, sagte ich. »Ich hoffe, Sie haben auch ein paar Kinder.«
Schweigen.
»Weil man doch erst Kinder braucht, um dann Enkelkinder zu bekommen, meine ich.«
»Ich habe drei Kinder«, erklärte sie, mit einem undurchdringlichen Lächeln.
»Gratuliere«, sagte ich aus purer Hilflosigkeit.
»Wo unterrichten Sie eigentlich, Isabel?«
»Och, eigentlich überall.«
»Haben Sie denn keine Stammschulen?«
»Kann man so nicht sagen. Die Mischung macht’s. Ich mag die Abwechslung.«
»Wo haben Sie denn letzte Woche unterrichtet? Nur so als Beispiel?«
Letzte Woche hatte Daniel eine Lunchattacke vorgenommen; dafür hatte ich mich vor der Presidio Middle School umgezogen. Schon als Kind wusste ich, dass man beim Lügen konsequent bleiben sollte.
»Dienstags und mittwochs war ich an der Presidio Middle School, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Mein Enkel Juan geht auf die Presidio. Bestimmt kennen Sie Leslie Granville vom Rektorat?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Ich bin ihr 20 begegnet.«
Schweigen. Dann:
»Ihm, wollten Sie sicher sagen. Als ich ihn das letzte Mal traf, war Leslie immer noch ein Mann.«
»Klar.« Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. »Ihm, natürlich. Wissen Sie, ich neige dazu, die Pronomen zu verwechseln, es gibt für diese Schwäche auch einen wissenschaftlichen Begriff. Sie ist offiziell anerkannt. Wie Lern- oder Rechtschreibschwäche. Tja. Leslie. Ein Mann. Was sonst.«
Ein Wunder – in Gestalt eines klingelnden Telefons –
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