Little Miss Undercover - Ein Familienroman
bewahrte mich vor weiteren Blamagen, doch von diesem Tag an sollte Mrs. Sanchez mich stets wie einen Menschen ansehen, der etwas zu verbergen hat. Und daraus konnte man ihr kaum einen Vorwurf machen.
Nach diesen ersten sechs Wochen mit Daniel musste ich einsehen, dass die vielen Verstellungen im Alltag überhandnahmen. Als einziger Ausweg blieb nur, rein bildlich gesprochen, ein Coming-out. Daniel sollte von meiner wahren Identität weiterhin nichts erfahren, aber ich würde keine Herkulestaten mehr vollbringen, um meine Familie zu täuschen. Natürlich war meine Prioritätensetzung mehr als fragwürdig, trotzdem schien mir dieser Schritt ein echter Fortschritt zu sein. Am nächsten Tag wagte ich mich mit Tweedrock und Twinset zur Haustür hinaus. Das Gleiche tat ich an den beiden folgenden Tagen, in wechselnden Outfits.
Am vierten Tag fing mich Dad auf dem Weg zum Ausgang ab. Und zwar um sieben Uhr morgens. Da mein Vater sonst nicht vor neun aus den Federn kriecht, war ich sofort hellhörig.
»Guten Morgen, Isabel.«
»Dad! So früh schon auf?«
»Ich wollte den Sonnenaufgang sehen.«
»Und wie war’s?«
»Hab ihn um eine halbe Stunde verpasst. Ich wusste nicht, dass die Sonne so verdammt früh aufsteht.«
»Ist das Absicht, dass du mir den Weg versperrst?«
»Ja.«
»Warum?«
»Was ist los?«
»Gar nichts.«
»Deine Klamotten erzählen was anderes.«
»Ach, jetzt sprichst du schon mit meinen Klamotten?«
»Sie sind sehr verräterisch.«
»Und was verraten sie so?«
»Sie verraten, dass du irgendwas ausheckst.«
»Das nenne ich üble Nachrede, von diesem Stoffensemble.«
»Ein Verdacht ist nun mal leicht geweckt, Izzy.« Mein Vater wurde allmählich lauter.
»Dad, in zehn Minuten muss ich das andere Ende der Stadt erreicht haben«, erwiderte ich. »Ich werde meinen Kleidern von nun an untersagen, mit dir auch nur ein Wort zu wechseln. Das verstehst du sicher.«
Die Befragung
Teil 4
Mir fällt auf, dass Stone sich meine Neigung notiert hat, durch Fenster ein und aus zu gehen. Sein Gekritzel grenzt ans komplett Unleserliche und ist verkehrt herum kaum zu entziffern. Dabei ist das sonst eine meiner leichtesten Übungen, verkehrt herum zu lesen, ganz unauffällig. Doch jetzt habe ich eine Spur zu lange dorthin gestarrt.
»Versuchen Sie nicht, meine Notizen zu lesen, Isabel.«
»Hab ich ja gar nicht.«
»Haben Sie wohl.«
»Hab ich nicht.«
Stone legt seinen Stift hin und sieht mich streng an. »Wie alt sind Sie?«
»Sie wissen genau, wie alt ich bin. Steht in Ihren Notizen.«
»Beantworten Sie meine Frage.«
»Achtundzwanzig.«
»Soviel ich weiß, gilt man mit achtundzwanzig als erwachsen. Kraft Gesetz darf man Auto fahren, wählen, heiraten, Gefängnisstrafen verbüßen ...«
»Worauf wollen Sie hinaus, Inspektor?«
»Ich hätte gern, dass Sie sich wie eine Erwachsene benehmen.«
»Was soll das heißen?«
»Das heißt, dass Sie Vernunft annehmen sollen, Isabel.«
Sein Tadel verletzt mich, wider Erwarten. So gern ich auch glauben würde, meine Eltern hätten ihm eine gründliche Gehirnwäsche verpasst, weiß ich natürlich, dass er von ganz allein zu seiner Einschätzung meiner Person gelangt ist.
Ich starre die Muster an, die ich als Kind und Jugendliche während so mancher Befragung in die Holzplatte geritzt hatte.Ich will vergessen, warum ich hier sitze. Ich versuche, nicht an das zu denken, was in diesem Raum schon alles gegen mich vorgebracht wurde. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass er bereits meine ganze Familie vernommen hat. Oder besser, fast die ganze Familie. Ich versuche, an andere Dinge zu denken, aber Stone holt mich in die Wirklichkeit zurück.
D ER K RIEG UM DAS R ECHT AUF A RBEIT IN DER F REIZEIT
T EIL ZWEI
Als ich abends nach Hause zurückkehrte, wappnete ich mich im Geist gegen die nächste Welle der Befragung, die mein neuer Kleidungsstil zweifellos auslösen würde. Doch da dräute bereits ein anderer Konflikt, gegen den alle Äußerlichkeiten völlig verblassten. Rae stand allein im Flur und starrte blinzelnd auf ihre Zimmertür.
»Rae?«
Der Klang meiner Stimme ließ sie aufschrecken. Rae drehte sich zu mir: »Warst du in meinem Zimmer?«
»Nein. Warum sollte ich?«
»Dann war jemand anders in meinem Zimmer.« Rae klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Tür, die quietschend aufsprang. Meine Schwester sah das offenbar als Beweis an.
»Keine voreiligen Schlüsse, Rae«, rief ich, so sinnlos das auch war. Seit sie vor zwei Jahren gelernt hatte, wie
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