Little Miss Undercover - Ein Familienroman
man Sicherheitsschlösser anbringt, hatte Rae ihre Tür mit einem solchen Schloss aufgerüstet. Das ist bei den Spellmans aus bekannten Gründen allgemein üblich, nur ich hatte mal eine zweijährige Auszeit wegen Drogenmissbrauchs hinnehmen müssen.
Ich lief die Treppen zu meiner Wohnung hoch. Ein paar Sekunden später hörte ich eine Tür knallen und ein fünfzig Kilo leichtes Wesen mit den Füßen stampfen. Daraufhin verließ ich meine Wohnung und folgte den Schritten bis ins Wohnzimmer.
»Mit welchem Recht machst du dich über mein Zeug her, du altes Sackgesicht?«, brüllte Rae schon beim Betreten des Raums.
Ohne den Blick vom Fernsehbildschirm zu wenden, sagte Onkel Ray: »Was regst du dich so auf? Ich hatte einen Job zuerledigen, in meiner Kamera waren die Batterien alle, also hab ich mir deine Digicam geborgt. Es war ein Notfall, kapiert?«
»Du hast drei Schlösser aufgebrochen, ein Schild ignoriert, auf dem klar und deutlich steht Betreten verboten , das ganze Zimmer abgesucht, um schließlich eine Kamera an dich zu nehmen, die in einer verschlossenen Kassette unter meinem Bett lag. ICH WEIS S JA NICHT, WIE MAN SO WAS ZU DEINER ZEIT NANNTE, ABER BEI UNS GILT DAS ALS DIEB STAHL! «
Rae preschte an mir vorbei zur Tür. Ich hörte sie noch murmeln: »Das bedeutet Krieg.«
Später sollte Rae erklären, sie sei an diesem Abend nur davongestürmt, um »ein bisschen Dampf abzulassen«. Währenddessen saß ich in meiner Wohnung und korrigierte einen Observationsbericht, den David erst annehmen wollte, wenn ich die fünf Rechtschreibfehler darin von allein aufgespürt hätte. Sonst »lernst du es ja nie«, hatte mein Bruder erklärt. Irgendwann hörte ich das vertraute Quietschen der Feuerleiter und sah, wie Rae sich von der letzten Sprosse herunterhangelte, bevor sie die restlichen anderthalb Meter mit einem Sprung überwand. Ein Blick auf die Uhr ergab, dass es bereits halb zehn war. Wenn Rae schon gegen die elterliche Sperrstunde verstieß, sollte sie es zumindest nicht ohne Zeugen tun.
Ohne einer Menschenseele zu begegnen, verlasse ich das Haus durch die Vordertür und schlage Raes Richtung ein. Bis zur Polk Street halte ich großzügigen Abstand. Auch wenn Rae ihre Strategien mit Vorliebe ändert, ist auf manche ihrer Gewohnheiten Verlass. Die Polk Street ist nah genug, und meine Schwester will einfach auf eine möglichst belebte Straße, um sich eine Zielperson auszusuchen und ihre Observationstechniken zu verfeinern.
Zunächst betritt Rae ein Café, das sie kurze Zeit später wieder verlässt, dabei knabbert sie offensichtlich an einem Brownie. Die Beschattung zahlt sich bereits aus, denn ich habesie beim ersten Regelverstoß ertappt: Süßes an einem Werktag. Als Rae ihren Weg unbeirrt fortsetzt, wird mir klar, dass sie ihre Beute schon ausgewählt hat. Ich schließe leicht zu ihr auf, zuversichtlich, dass sie mich nicht bemerken wird.
Rae folgt einem Mann von etwa Mitte zwanzig, mit phantasievoller Gesichtsbehaarung und der üblichen Tattoo-Sammlung am Leib. Beide betreten den Polk-Street-Buchladen. Mit vierzehn wirkt meine Schwester wie maximal dreizehn, dabei ist es fast zehn Uhr abends, und sie ist ohne Begleitung unterwegs. Wenn Rae sich gerade für unauffällig hält, täuscht sie sich. Doch anstatt in den Laden zu gehen und ihr den Spaß zu verderben, warte ich draußen auf den richtigen Moment, um mich zu erkennen zu geben.
Der Tätowierte verlässt das Geschäft, ohne ein einziges Buch gekauft zu haben. Das überrascht mich nicht. Noch warte ich auf meine Schwester. Nach einer angemessenen Zeitspanne verlässt auch sie den Laden und folgt dem Mann die Straße runter Richtung Tenderloin-Viertel. Ich bleibe beiden auf der Spur, nach wie vor unbemerkt.
Raes Zielperson biegt nach links ab in die Eddy Street, und sie geht ihr nach. Als mir klar wird, dass sie gar nicht umdrehen will, werde ich richtig wütend. Über Jahre haben wir Rae eingebleut, wie gefährlich diese Gegend ist. Darum bin ich so schockiert, als sie sich tatsächlich dorthin begibt.
An der nächsten Ecke biegt der Typ wieder nach links ab. Rae rennt hinterher, um ihn ja nicht aus den Augen zu verlieren. Als meine Schwester hinter der Biegung verschwunden ist, folge ich ihr. Wieder biegt der Tätowierte nach links ab, auf diese Weise haben wir einmal den ganzen Block umrundet. Am liebsten würde ich Rae eine komplette Litanei der Sorte Bist du jetzt völlig übergeschnappt? hinterherbrüllen, aber vielleicht gibt es für sie
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