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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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Pause zeigte an, dass Onkel Ray mit jeder weiteren Bitte auf Granit beißen würde.
    »Viertel nach eins. Sei pünktlich!«
    Onkel Ray schmeckte die cremige Muschelsuppe in Sauerteigschale so gut, dass er sich fragte, warum er sich diese Dinge nicht öfter gönnte – gemeint war die Suppe, nicht die Telefonzellenhatz, die ein gnadenloses junges Mädchen gerade mit ihm veranstaltete. Bis ihn schließlich lärmende Reisegruppen, zankende Familien, flackernde Blitzlichter vor grauem Himmel,laut plärrende Musik und Scharen von Breakdancern daran erinnerten, warum er diese Touristenfalle bisher immer so konsequent gemieden hatte – auch wenn dort eine seiner fünf absoluten Leib- und Magenspeisen angeboten wurde.
    Danach sprang er in ein Taxi und kam eine Viertelstunde zu früh bei den Suthro Baths an, um eins, wie die Stimme es zunächst angeordnet hatte. Onkel Ray setzte sich auf eine Bank, genoss die Aussicht und die Stille, während er sich die kalten Hände rieb. Er dachte sogar daran aufzugeben. Steckten in diesem zwanzig Jahre alten Hemd aus hundert Prozent Baumwolle wirklich glückbringende Kräfte? Oder war es nicht eher eine Art Schmusedecke für den erwachsenen Mann? Wurde es für ihn nicht allmählich Zeit zu erkennen, dass er lebte und gute Chancen hatte, bis auf weiteres am Leben zu bleiben? Da fiel ihm Sophie Lee ein und wie sie von ihm verlangt hatte, das Hemd zu entsorgen. Angeblich konnte sie nicht mit ihm zusammenbleiben, wenn er so an diesem Stück Stoff hing. Deshalb hatte sie ihn vor die unmögliche Wahl gestellt – entweder das Hemd oder sie. Damals hatte er das Hemd nicht geopfert. Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht. Stattdessen hatte er es weggepackt und zwei Jahre nicht angeguckt. Nach Ablauf dieser zwei Jahre, als Sophie und der Krebs Geschichte waren, hatte Ray sich geschworen, das Hemd niemals herzugeben. Mit Logik hatte das nichts zu tun. Aber er liebte dieses Hemd nun mal.
    Eine junge Touristin trat auf ihn zu und übergab ihm einen Umschlag.
    GOLDEN GATE BRIDGE. 1 STUNDE.
    Ray beschloss, zur Brücke zu schlendern, er konnte ein wenig Bewegung vertragen. Doch er war spät dran. Rae drehte mit ihrem Fahrrad ungeduldig eine Runde nach der anderen vor dem Aufgang für Fußgänger. Um vier spätestens musste sie wieder daheim sein, ansonsten drohten ihr der nächste Hausarrest und verkürzte Ausgangszeiten.
    Onkel Rae tappte ihr bewusst langsam und schwerfällig entgegen. Als erfahrener Cop war ihm die Situation durchaus vertraut. Er wusste ebenso gut wie seine Nichte, dass man durch verfrühtes Einlenken jeden Verhandlungsspielraum verschenkte. Und so wollte er Rae als Erste sprechen lassen.
    »Hast du das Geld dabei?«
    »Ja. Hast du das Hemd dabei?«
    »Ja.«
    »Gib schon her, Mädchen. Es war ein verflucht langer Tag.«
    Rae und Ray tauschten ihre Päckchen aus. Ray zog das Hemd hervor und stülpte es sich umgehend über sein Kapuzenshirt. Er strich die Falten glatt und zupfte den Kragen in Form. Dann atmete er tief aus, weil er eine nie gekannte Erleichterung verspürte.
    Als Rae das Geld im Umschlag gezählt hatte, sagte sie: »Dreiundsechzig? Ich hatte doch hundert gesagt.«
    »Zwei Bustickets. Der Eintritt für das Museum. Die Taxifahrten. Die Muschelsuppe. Das läppert sich.«
    »Dann will ich mal ein Auge zudrücken.« Rae zeigte sich großzügig, weil sie wusste, dass sie ihrem Onkel das Hemd wohl kaum wieder würde entwinden können.
    »Sind wir jetzt quitt?«
    »Sind wir.«
    Onkel Ray verließ die Brücke. Doch für Rae war die Sache noch nicht beendet. Sie musste noch die Frage loswerden, die ihr seit Monaten nicht aus dem Sinn ging.
    »Warum?«, rief sie. »Warum bist du zurückgekommen?«
    Onkel Ray drehte sich um. Er dachte über die richtige Antwort nach. Und obwohl er keineswegs fand, dass sie das verdient hatte, sagte er ihr die Wahrheit: »Ich war einsam.«
    Mir kam es zunächst seltsam vor, dass Rae und Onkel Ray ihren Streit so locker beigelegt hatten. Obwohl meine Schwester sich nie einsam gefühlt hatte, verstand sie doch, wie verheerend dieses Gefühl sein musste. Plötzlich bereute sie, sichso grausam aufgeführt zu haben, so dass sie ihren Krieg auf der Stelle beendete. Onkel Ray sollte mir später erklären, es sei einfacher, mit Rae verfeindet als befreundet zu sein. Und das war vielleicht das Klügste und Wahrste, was er je von sich gegeben hat.
    Nachmittags fuhr ich nach Hause, um mir die Snow-Akte noch einmal vorzunehmen. Vor allem studierte ich

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