Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Lehrerin zu kleiden, und trug wieder Jeans, Lederstiefel sowie eine abgenutzte Seemannsjacke aus Armeebeständen, denn draußen herrschte eine Temperatur von maximal zehn Grad. Damit fand ich mich absolut salonfähig, doch Mrs. Snows Gesichtsausdruck besagte das genaue Gegenteil.
»Herrje«, meinte sie, »heutzutage kleiden sich die jungen Frauen genauso wie die Männer.«
»Stimmt. Ist das nicht toll?«, erwiderte ich, da Mrs. Snow mir alles andere als sympathisch war.
»Darf ich Ihnen Tee und ein paar Kekse anbieten?« Offenbar hatte sie keine Lust, über die Vorzüge von Männerkleidung zu diskutieren.
Ich bejahte, schließlich hatte ich am Morgen die Küche meiner Eltern gemieden (um meine Eltern zu meiden) und stand kurz vor dem Verhungern. Dann rührte ich mich nicht mehr von der quietschenden Couch, weil die Plastikläufer nur einenbegrenzten Teil des porentief reinen Raums abdeckten. Sollte Mrs. Snow mich mit meinen Stiefeln auf ungeschütztem Teppichboden erwischen, würde sie mich vielleicht sofort vor die Tür setzen, statt mir eine Unterredung zu gewähren. Ich nahm mir fest vor, höflich zu bleiben, ein Vorsatz, den ich bald wieder vergessen sollte.
Die Dame des Hauses kehrte mit einem polierten Silbertablett zurück; darauf standen eine Teekanne, zwei Teetassen, Milch und Zucker und ein Teller mit Vanille-Doppelkeksen. Auf die Frage, wie ich meinen Tee denn tränke, antwortete ich »mit Milch und Zucker« (wobei ich meinen Tee am liebsten in Form von Kaffee zu mir nehme). Ich bekam die farblose Flüssigkeit mit größter Akkuratesse serviert.
»Und dazu einen Keks?« Mrs. Snow streckte mir eine Silberzange entgegen.
Die Doppelkekse waren in einem Halbkreis auf dem Teller angerichtet, wie umgekippte Dominosteine. Ich griff mir einen aus der Mitte, gerade weil meine Gastgeberin sich darüber ärgern würde. Kontrollversessene Persönlichkeiten wecken in mir unweigerlich den Drang zu rebellieren.
Jetzt reckte Mrs. Snow die Silberzange in die Höhe. »Dafür ist eigentlich diese Zange gedacht, meine Liebe.«
Nachdem ich mich entschuldigt hatte, brach ich meinen Keks in der Mitte entzwei. Dann leckte ich die Vanillecreme ab und tunkte die Kekshälften in den Tee. Mrs. Snow runzelte vor Abscheu die Stirn. Bevor ich mit der Befragung begann, dachte ich daran, dass Mrs. Snows Ordnungszwang unter Umständen ihre Aufrichtigkeit beeinträchtigte.
»Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich hier bin«, sagte ich.
»In der Tat. Mit Ihrer Mutter habe ich zuletzt vor zehn Jahren gesprochen.«
»Gelegentlich nehmen wir uns alte Fälle wieder vor. Weil ein unvoreingenommenes Auge vielleicht etwas Neues entdecken kann.«
Mrs. Snow sortierte die Kekse auf dem Teller um. Die Lücke, die ich in die Mitte gerissen hatte, schloss sich. »Das brauchen Sie nicht, Ms. Spellman, weder für mich noch für meine Familie. Mein Sohn ist verschwunden. Ich habe mich damit abgefunden.«
»Manche Menschen wollen es genauer wissen.«
»Ich für meinen Teil weiß genug. Andrew befindet sich jetzt an einem besseren Ort.«
Da musste ich ihr recht geben. Jeder Ort war besser als dieser. Ich nahm noch einen Keks aus der Mitte, einfach, um Mrs. Snows Langmut auf die Probe zu stellen.
»Nehmen Sie die Kekse doch vom Rand, meine Liebe, und bitte benutzen Sie dafür die Zange.«
»Verzeihen Sie«, sagte ich höflich. »Da habe ich im Knigge wohl das Kapitel zum korrekten Keksverzehr ausgelassen.«
»Ich glaube, Sie haben noch ganz andere Kapitel ausgelassen.« Merkwürdig, wie ungerührt Mrs. Snow diese Beleidigung von sich gab, als sei es völlig angemessen, einer wildfremden Person in diesem Ton zu begegnen. Doch so gern ich eine hitzige Debatte über die Vorteile moderner Verhaltensweisen losgetreten hätte, musste ich mich auf meinen Auftrag konzentrieren.
»Ich verstehe, wie schmerzlich das für Sie sein muss, Mrs. Snow«, sagte ich in einem möglichst mitfühlenden Ton. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten.«
»Wenn Sie schon mal hier sind.«
»Danke. Wo ist eigentlich Ihr Mann?«
»Beim Golfspielen.«
»Ihn würde ich nämlich auch gern sprechen.«
»Aber warum?«, fragte sie. Auf einmal klang ihre Stimme defensiver.
»Um alle möglichen Perspektiven zu kennen«, erklärte ich. »Vielleicht fällt ihm etwas ein, das noch niemand bemerkt hat.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass mein Mann und ich uns in diesem Fall vollkommen einig sind.«
»Wie praktisch.« Am
Weitere Kostenlose Bücher