Little Miss Undercover - Ein Familienroman
die Fotos von Andrew und Martin, die ich in einem Umschlag gefunden hatte. Anders als die gerahmten Porträts über Mrs. Snows Kamin schienen diese Bilder aus der Zeit unmittelbar vor Andrews Verschwinden zu stammen, als er siebzehn war. Die Brüder hatten einiges gemeinsam. Beide hatten braune Haare und braune Augen. Doch Martins attraktiv kantiges Gesicht ließ ihn deutlich älter erscheinen als seinen Bruder, auch wenn er ihm nur ein Jahr voraushatte. Andrew war schmaler als Martin und hatte weichere Züge. Ich fragte mich, wie er rund zwölf Jahre später aussehen mochte. In Martins Fall würde ich es bald herausfinden.
Als meine Mutter das Büro betrat, schnupperte sie kurz und leicht irritiert. »Hast du dich etwa parfümiert, Isabel?«
»Nein«, zischte ich. Offenbar haftete noch Potpourriduft an meiner Kleidung.
»Was ist das für eine Note?« Sie ließ sich ihren Spaß nicht verderben.
»Tu nicht so, Mom.«
»Ach ja.« Es klang so, als sei meiner Mutter plötzlich ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. »Abigail Snow liebt also immer noch den Geruch von toten Blumen.«
»Jetzt weiß ich, warum du mich mit diesem Fall betraut hast.«
»Weil Andrew Snow seit zwölf Jahren vermisst wird?«
»Nein. Weil Mrs. Snow das garstigste Weibsbild im ganzen Universum ist.«
»Woher willst du das wissen? Du kennst noch längst nicht alle Weibsbilder im Universum.«
»Wie ist Mr. Snow denn so?« Ich wollte das Thema wechseln.
»Hast du ihn nicht gesehen?«
»Nein. Er war Golf spielen.«
»Hm. Wer hätte gedacht, dass dieser Mann Golf spielt? Isabel, bist du vielleicht in den Hungerstreik getreten?«
»Nein. Wie kommst du darauf?«
»Weil du die Küche boykottierst.«
»Ich habe meine eigene Küche.«
»Und gibt es dort auch was Essbares?« Sie hatte den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen.
»Ich weiß, wie man sich Lebensmittel besorgt, Mom.«
»Ich weiß, dass du es weißt, aber du tust es nicht. Was ich eigentlich sagen wollte: Bei uns in der Küche gibt es immer was zu essen, und wenn du hungrig bist, darfst du jederzeit kommen, auch wenn du dich für deine Familie schämst und für den Beruf, den sie ausübt.«
»Danke, Mom«, sagte ich, während ich mich mit der Snow-Akte nach oben verzog.
Natürlich hatte sie recht. Ich hatte die Küche boykottiert, um meine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Wie ein alberner Teenager hatte ich dafür sogar einen leeren Magen in Kauf genommen.
Abends klopfte Rae an meine Wohnungstür, sie hatte Essen für mich dabei. Interessanterweise hatte sie begriffen, dass ich hungrig war, aber nicht, worauf ich Appetit hatte – jedenfalls nicht auf Zeug, das man aus Pappschachteln schüttet. Allerdings war es so rührend, mit anzusehen, wie sie für mich den Tisch deckte, eine riesige Portion Froot Loops in eine Schale kippte, dazu einen Viertelliter Milch, mir die Serviette über die Knie drapierte und einen Löffel reichte, dass ich es trotzdem aß. Rae setzte sich mir gegenüber und bediente sich direkt aus der Schachtel. Mit einem Blick versuchte ich, sie an die Zucker-Regel zu erinnern; mit einem Blick erwiderte sie: Heute ist doch Samstag.
Es war ihr anzumerken, dass sie etwas bedrückte, denn wenn sie nicht gerade eine weitere Handvoll Froot Loops zu sich nahm, sortierte sie meinen gigantischen Poststapel, zunächst nach Größe, dann sortierte sie ihn nach Farben um. Ich ließ sie in Ruhe, weil ich eigentlich gar nicht wissen wollte, was ihr auf der Seele lastete. Irgendwann legte sie aber los, wie ich es erwartet hatte. Meine Schwester will ihr Nervensystem nicht unnötig strapazieren, indem sie die Dinge für sich behält.
»Mom meint, zwischen dir und mir gibt es nur einen Unterschied.«
»Tatsächlich«, sagte ich. »Die vierzehn Jahre Altersunterschied?«
»Nein.«
»Die zwanzig Zentimeter Größenunterschied?«
»Nein.«
»Die Haarfarbe vielleicht?«
»Nein.«
»Dabei sind das schon drei entscheidende Unterschiede.«
»Bist du denn gar nicht neugierig?«
»Nicht sehr.«
»Ich hasse mich nicht selbst. Das ist der Unterschied«, sagte Rae.
Ich nahm die Schachtel Froot Loops und schleuderte sie in den Flur. Dann krallte ich mir meine Schwester und schubste sie hinterher.
»Wart’s nur ab. Das kommt schon noch.«
Rae fiel auf die Füße. »Was anderes hast du wohl nicht drauf.«
Statt einer Antwort trat ich die Tür zu. Was hätte ich ihr auch antworten sollen. Es stimmte: Was anderes hatte ich nicht drauf. Und das, was sie davor gesagt
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