Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Glückshemd gekidnappt hatte.
»Das sag ich deinem Dad«, drohte Onkel Ray.
»Dann siehst du dein Hemd nie wieder. Du hast es nicht anders gewollt.«
Onkel Ray sah sich in die Ecke gedrängt. »Wie lauten die Anweisungen?«, fragte er mürrisch.
»Fahr mit dem Bus zur Wells Fargo Bank, Ecke Montgomery und Market, und heb hundert Dollar ab.«
»Das ist Wucher!«
»Du hast genau fünfundvierzig Minuten.«
Fünfundvierzig Minuten später Den Anweisungen der Stimme entsprechend betrat Ray die Wells Fargo Bank, Ecke Montgomery und Market, und hob hundert Dollar ab. Als er die Bank verließ, sprach ihn ein junger Skateboarder an, schätzungsweise vierzehn Jahre alt.
»Sind Sie Onkel Ray?«, fragte er.
Ray drehte sich einmal um die eigene Achse, um seine Nichte ausfindig zu machen, aber sie war nirgends zu sehen. Er wandte sich wieder dem Skateboarder zu und musterte ihn streng: »Was gibt’s?«
Der Junge reichte ihm ein altes Handy. »Telefon für Sie.«
Als Ray das Handy entgegengenommen hatte, skateboardete der andere davon.
»Hallo?«
»Punkt acht Uhr fünfzehn in der Telefonzelle vor dem Wachsmuseum an der Fisherman’s Wharf.«
»Wann kriege ich mein Hemd zurück?«
»Du hast noch fünfundzwanzig Minuten. Schmeiß das Handy weg!«
Onkel Ray warf es in den nächsten Abfallbehälter, felsenfest davon überzeugt, dass er beobachtet wurde. Dann nahm er sich ein Taxi und kam viel zu früh an. Er stellte sich vor die Telefonzelle, bis er eine junge Frau sah, die in ihrer Geldbörse offenbar nach Münzen suchte. Ray kam ihr zuvor und hielt sich den Hörer ans Ohr, während er listig die Gabel nach unten drückte und zugleich ein Telefongespräch simulierte – das aus einer Reihe sinnloser Flüche bestand, was jedoch niemand mitbekam. Endlich klingelte das Telefon.
»Yeah«, sagte Ray, bemüht, einen möglichst toughen Eindruck zu erwecken.
»Besorg dir ein Ticket und guck dir die Püppchen an«, sagte die Stimme, die einiges an Tarnung eingebüßt hatte.
»Hey, das kostet mich mindestens dreizehn Mäuse«, protestierte Ray, der freiwillig keinen Fuß ins Wachsmuseum setzen würde, selbst wenn es kostenlos und mit Alkoholausschank wäre.
»Für dich gibt’s bestimmt Seniorenrabatt. Dann sind’s nur zehn fünfzig.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann landet dein Hemd in der Bay. Und zwar sofort.«
»Was habe ich dir denn getan?«
»Willst du eine komplette Aufstellung?«
»Ich geh ja schon.«
D ER F ALL S NOW
K APITEL 1
Während Onkel Ray seinen inneren Schweinehund bezwang und das Wachsmuseum betrat, klopfte ich in der Myrtle Avenue in Marin County an die Haustür von Joseph und Abigail Snow. Als Mrs. Snow öffnete, warf mich der penetrante Duft fast um, der aus dem Inneren drang. Später sollte ich erfahren, dass es sich hierbei um ein Potpourri handelte, doch zunächst ließ ich die mögliche Geruchsquelle außer Betracht, weil mich zu viele andere Dinge verstörten.
Abigail Snow, inzwischen Anfang sechzig, trug ein altmodisches geblümtes Kleid, das aus einer Familienserie der Fünfziger zu stammen schien. Auch ihre Frisur war in der Vergangenheit steckengeblieben, mit kräftiger Unterstützung einer halben Dose Haarspray. Trotz ihrer knapp 1,70 Meter wirkte sie groß und ziemlich einschüchternd, weil sie so stämmig gebaut war, eher robust als feist. Ihr Stil war (meiner Meinung nach) nicht gerade vorteilhaft, dafür aber lupenrein. Beim Betretendes Hauses stellte ich fest, dass sich Mrs. Snow offenbar in allen Bereichen dadurch auszeichnete – durch lupenreine Geschmacklosigkeit.
Über Plastikläufer gelangte ich in das Wohnzimmer der Snows, das passenderweise in Schneeweiß gehalten war. Abgesehen von der Kirschholzgarnitur und einer Sammlung Platzteller. Die vielen Zierdeckchen nicht zu vergessen, noch nie hatte ich auf einem Fleck so viele Zierdeckchen gesehen. Ich suchte die Wände nach Bildern von ihren Söhnen ab, aber es gab nur zwei 8x10 Zentimeter große Fotos über dem Kamin. Sie zeigten zwei Jungen im Grundschulalter, in makelloser Unschuld – mit Kostüm und Fliege, reiner Haut und gezwungenem Lächeln –, die nichts von den künftigen Männern erahnen ließen. Ich hatte das Gefühl, Mrs. Snow wollte auch diese beiden in der Vergangenheit einfrieren, wie alles andere in ihrem Haus.
Meine Gastgeberin unterzog mich einer strengen Musterung, ehe sie mir anbot, auf ihrer weißen, in Plastik gehüllten Couch Platz zu nehmen. Inzwischen hatte ich aufgehört, mich wie eine
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