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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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erwartet in Abendgala aus dem Haus trat, fuhr ich davon. Er sollte mich nicht sehen. Mit Petra und David würde ich später abrechnen.
    Getürkter Zahnarzttermin Nr. 3
Mit meinen Eltern vereinbarte ich eine kurze Waffenruhe. Beide Kriegsparteien hatten in jüngster Zeit Federn lassen müssen. Für Rae galt diese Vereinbarung allerdings nicht. Nach Rücksprache mit Mom überbrachte ich meiner Schwester die bittere Botschaft.
    »Daniel erwartet dich morgen Nachmittag um Punkt vier in seiner Praxis. Dann bist du deine Löcher los.«
    »Muss das sein?«, fragte Rae.
    »Wenn du diesen Termin sausenlässt, wirst du es bis an dein Lebensende bereuen.«
    Als ich später ins Wohnzimmer kam, saßen dort bereits Rae und Onkel Ray vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm wusch sich Laurence Olivier gerade die Hände. »Sind sie außer Gefahr?«, fragte Olivier den an einen Zahnarztstuhl geschnallten Dustin Hoffman.
    Ich trat hinter die Couch und starrte auf den Schirm.
    »Sind sie außer Gefahr?«, wiederholte Olivier und griff nach dem Zahnarztbesteck.
    Vorwurfsvoll wandte ich mich an Onkel Ray: »Was soll das? Wieso müsst ihr euch vor Raes Termin ausgerechnet den Marathon-Mann angucken?«
    Meine Schwester signalisierte mir, ich solle die Klappe halten, ohne einmal den Blick vom Bildschirm zu wenden. Onkel Ray gab sich ahnungslos: »Was hast du denn? Ist doch ein guter Film.«
    Als Olivier zum dritten Mal fragte: »Sind sie außer Gefahr?«, verließ ich fluchtartig den Raum.
    Am folgenden Nachmittag wartete eine äußerst angespannte Rae in Behandlungszimmer Nr. 2 auf Daniel. Bald hörte sie, wie er Mrs. Sanchez in den Feierabend verabschiedete, und drückte gerade noch rechtzeitig die Aufnahmetaste ihres Diktiergeräts. Zahnarzt bleibt schließlich Zahnarzt, nicht wahr? (Erst Monate später sollte ich das folgende Transkript mit Raes lebhaften Randbemerkungen finden.)
    [Daniel betritt das Behandlungszimmer.]
    Rae: Dr. Castillo?
    Daniel: Du sollst mich doch Daniel nennen, bitte.
    Rae: Sind Sie sicher, dass es drei Löcher sind?
    Daniel: Absolut sicher.
    [Daniel wäscht sich die Hände.]
    Rae: Könnte ich die Röntgenaufnahmen sehen?
    [Daniel schweigt eine Weile.]
    Daniel: Vertraust du mir nicht?
    Rae: Doch, aber ich würde trotzdem gern einen Blick riskieren.
    [Daniel sucht die Aufnahmen raus, schaltet den Leuchtschirm ein und deutet auf die betroffenen Stellen.]
    Daniel: Die ersten beiden Löcher siehst du hier unten rechts, im zweiten vorderen Backenzahn und ersten hinteren Backenzahn. Das dritte ist distal links oben im Schneidezahn.
    [Daniel nimmt eine Spritze.]
    Rae: Haben Sie für so was denn keine Sprechstundenhilfe?
    Daniel: Ich habe sie schon nach Hause geschickt. Wir sind ganz unter uns. Den Mund jetzt bitte schön weit aufmachen.
    [Rae macht den Mund nicht schön weit auf.]
    Rae: Sind das auch ganz bestimmt meine Röntgenaufnahmen?
    Daniel: Du willst doch nur Zeit schinden, Liebchen. Tu mir bitte den Gefallen und mach den Mund auf.
    Rae: Sie haben meine Frage nicht beantwortet.
    [Daniel beugt sich vor.]
    Daniel: Hast du etwa Angst vor mir, Rae?
    Rae: Ich habe nur Angst vor überflüssigen Eingriffen.
    Daniel: Das bisschen Schmerz schadet nicht. Das härtet ab.
    Rae: Isabel meinte, es würde nicht weh tun.
    Daniel: Glaubst du alles, was deine Schwester sagt?
    Rae: Natürlich nicht.
    [Daniel zieht das Betäubungsmittel auf.]
    Daniel: Sind sie außer Gefahr?
    [Diesen letzten Satz spricht Daniel mit deutschem Akzent. Dabei zwinkert er Rae vielsagend zu. Sie springt aus dem Behandlungsstuhl und rennt aus der Praxis. Das Papierlätzchen reißt sie sich erst draußen von der Brust.]
    Rae, offenbar vom Filmerlebnis des Vorabends beflügelt, rannte die knapp vier Kilometer von der Praxis zur Clay Street 1799ohne Pause. Mit zitternden Händen schloss sie die Haustür auf, um sogleich ins Büro zu stürzen. Völlig außer Atem blieb sie vor Mom und Dad stehen und rang nach Luft. Unsere Eltern sahen sie verwundert an.
    Als Rae wieder sprechen konnte, sagte sie: »Daniel Castillo ist böse.« Danach beschrieb sie ihren Termin in aller Ausführlichkeit und mit den düstersten Vokabeln, die ihr reicher Wortschatz hergab. Demnach war Daniel seltsam, finster, furchterregend, unheimlich, gruslig, dämonisch, morbid und pervers. »Und dann dieses Augenzwinkern«, führte Rae aus. »Es war geradezu diabolisch.« Da Mom und Dad aber wussten, dass Rae gelegentlich zu Übertreibungen neigte, nahmen sie es nicht allzu wörtlich. Seit ihrer

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