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Titel: Live Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein Thriller
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Doktor?“
     
     
     
    Dieselbe Frage hatte Charlie schon einmal gestellt, vor acht Jahren, in einem netten eingerichteten Büro einer Arztpraxis.
     
    Die Schmerzen in seiner Lunge hatten vor einigen Monaten begonnen. Am Anfang hatte es sich angefühlt wie eine leichte Erkältung, ein Rasseln in den oberen Atemwegen, und da es Winter gewesen war, hatte Charlie es mit allem probiert, was die Pharmaindustrie so auf den Markt warf. Hustensäfte. Lutschdragees.
     
    Nichts hatte geholfen.
     
    Und es wurde schlimmer. Aus dem Rasseln wurde ein immer stärker werdender Druck auf die Lungen, der sich mehrfach täglich in einem explosiven Husten löste, der an guten Tag aus Schleim, an schlechten Tage aus Blut bestand.
     
    Und nach einigen Monaten hatte sich Charlie in diesem Büro wiedergefunden, nach Tests, Scans und Untersuchungen.
     
    Der Arzt, der ihm gegenüber gesessen hatte, war noch jung gewesen, mit einem Schopf voller blonder Haare und einer Tätowierung irgendeines chinesischen Glücksymbols auf der Innenseite seines Handgelenks. Der Arzt hatte ihn mit echtem Mitleid angeschaut, nachdem er die Diagnose gestellt hatte.
     
    „Wie lange habe ich noch?“
     
    Julies Gesicht hatte einen steinernen Ausdruck angenommen, der ihm eigentlich schon genügte.
     
    „Ich bin kein Doktor. Ich bin Krankenschwester“, meinte sie, fügte dann aber hinzu: „Drei Stunden, wenn wir Glück haben, vielleicht vier.“
     
    Charlie mußte an das chinesische Glücksymbol denken, vor acht Jahren, und an das Gefühl, das er damals gehabt hatte. Glück. Glück, daß er nicht in der Nähe einer der Türme gewesen war. Glück, daß er nach dem Tod seiner Frau nie wieder gefühlt hatte.
     
    Glück.
     
    „Drei Stunden“, wiederholte Charlie nachdenklich. Er stöhnte auf, als sich das Feuer in seinem Bauch um einige Zentimeter nach links verlagerte, ganz so, als hätten sich die Schmerzen entschieden, auf Wanderschaft zu gehen.
     
    „Drei Stunden, bis ich tot bin…oder drei Stunden, bis kein Arzt der Welt mich noch retten kann?“ fragte er.
     
    Julie senkte den Kopf. Sie mußte an ihre Mutter denken, die während des Vietnam-Kriegs als Krankenschwester in einem der Feldlazarette gedient hatte. Wie oft hatte Margaret Winters an dem Bett eines ihrer Patienten gesessen und gewußt, genau gewußt,  daß der Mann die Nacht nicht mehr überleben würde?
     
    Ihre Mutter hatte ihr Geschichten darüber erzählt, als Julie die Ausbildung zur Krankenschwester angefangen hatte. Margaret Winters war überhaupt nicht damit einverstanden gewesen, daß ihre Tochter ebenfalls den Rest ihres Lebens mit Blut und Urin anderer Menschen verbringen wollte.
     
    „Du hast doch vielen Menschen helfen können, Mom“, war ihre Antwort damals gewesen, als ihre Mutter sie wieder in einen Streit verwickeln wollte. Margaret Winters war damals schon fast sechzig gewesen, eine alte, vom Leben gezeichnete Frau, die jede einzelne alte Falte in ihrem Gesicht, jedes graue Haar auf ihrem Schädel wie einen Kriegsorden trug, stolz, daß nichts sie hatte zerbrechen können.
     
    „Ich habe mehr von ihnen sterben sehen, Julie“, war ihre Antwort gewesen und die alte zerbrechlich wirkende Frau hatte sich eine Zigarette aus der Schachtel geholt und sie mit zitternden Händen angezündet. „Viel, viel mehr von ihnen starben in meinen Armen und ich kann mich heute noch an jedes einzelne Gesicht erinnern. Es waren junge Männer, die meisten von ihnen. Die meisten gerade mal alt genug, sich zu rasieren. Sie hätten nicht in diesem Krieg sein dürfen. Keiner von ihnen. Sie hätte nicht sterben dürfen. Ich kenne jedes einzelne Gesicht. Ihre Namen habe ich vergessen, aber niemals die Gesichter.“
     
    Sie hatte den Rauch ausgeatmet und das Streichholz, das sie zum Anzünden benutzt hatte, flackerte in einer letzten Flamme auf, bevor das Licht verflog und sie nur noch mit ihren alten, rätselhaften Augen in die Leere starrte, die vor ihrem Gesicht war. Leere, in denen sie ihre Vergangenheit sehen konnte.
     
    „Ich werde dich nicht hindern, Krankenschwester zu werden, Julie“, hatte die alte Frau gemeint. „Ist schließlich deine Entscheidung, nicht meine. Dein Leben, nicht meins.“
     
    Ein Zug von der Zigarette, dann hustete sie und spie den Rauch förmlich aus.
     
    „Aber du wirst die Gesichter sehen. Jedes Gesicht. Nicht die der Leute, die retten wirst. Nicht die, die überleben. Nur die, die sterben. Du wirst nachts von ihnen träumen, bis zu dem Tag, an

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