Live

wahr? Ich hätte nicht gedacht, daß es so einfach hätte sein können“ meinte ein in übermäßigen Dimensionen aufgenommener Donald Turow auf dem Bildschirm.
     
    Roth mußte sich eines seiner Ohren zuhalten, um Claire noch verstehen zu können, eine leise Stimme, eingesperrt in seinem Handy.
     
    „Ihr solltet euch bereithalten“, meinte seine Produzentin. „Ich werde Susie bald vom Sender holen und euch übernehmen. Steht die Ausrüstung?“
     
    „Wir sind fertig.“
     
    Vanessa Kesel hatte sich auf die Couch sacken lassen, als ihr Mann im Fernsehen zu sehen war; ihr Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung.
     
    Ihre Hände zitterten nicht mehr. die Augen waren auch längst nicht mehr so gläsern. Sie schob sich nach vorne, holte ein neues Zigarillo aus dem Kästchen auf dem Tisch und zündete es sich an. Ihr Ex-Mann auf dem Bildschirm schien ihr dabei zuzusehen.
     
    „Es tut mir leid“, sagte Roth zu ihr.
     
    Er nickte in die Richtung des Fotos von Vanessa Kesels Sohn. Autounfall. Das war die Informationen, die er hatte. Die er nutzen konnte, womit er arbeiten konnte, um Vanessa Kesel zu dem zu bringen, was er wollte. Eine Show. Seine Show.
     
    „Autounfall, nicht wahr?“
     
    Die Frau schien nicht überrascht zu sein.
     
    Ihr Gesicht verschwand hinter einer Wolke aus Rauch, aus dem nur ihre Augen hervorstachen.
     
    „Sie sind gut informiert“, sagte sie.
     
    „Es tut mir leid.“
     
    „Damit hat es alles angefangen.“
     
    „Mit ihrem Sohn?“
     
    „Mit seinem Tod.“
     
    „Eine Sekunde, bitte“, sagte Roth. Noch nicht. Das wollte er auf dem Sender haben. Die Frau war zu wichtig, und er wußte aus Erfahrung, daß er das brauchte, die frische, rohe Emotion, die man nicht wiederholen konnte. Jetzt die ganze Geschichte zu hören wäre reine Vergeudung. Seiner Zeit. Und, was noch wichtiger war, die Zeit des Senders. Roth hob die Hand, um sie zu unterbrechen, während er Claire zuhörte, die sich wieder meldete.
     
    „Eine Minute“, sagte seine Produzentin.
     
    „Gut“, antwortete der Reporter und legte das Handy auf den Couchtisch, bevor er rüberging zu Vanessa Kesel und sich auf die andere Seite der Couch setzte.
     
    Vanessa Kesel sagte nichts, zog an ihrem Zigarillo und starrte jetzt in die Kamera, hinter der sich der fette Mann aufgebaut hatte und durch das Objektiv sah, die letzten Justierungen übernahm
     
    „Sind wir schon auf Sendung?“ fragte sie.
     
    „Noch nicht.“
     
    Sie nickte, drückte das Zigarillo aus.
     
    „Eine halbe Minute, Mike“, meinte der Kameramann.
     
    Das rote Licht an der Kamera funkelte auf.
     
     
     
    05:32
     
    „Turow?“ meinte Susan Miller, als der Mann sich von ihr abgewandt hatte, die Waffe mit beiden Händen krallte, den Rücken vor Schmerzen gekrümmt.
     
    „Nicht mehr lange,“ flüsterte er.
     
    Susan faßte ihn an der Schulter.
     
    „Schauen Sie auf dem Bildschirm, Donald.“
     
    Er sah hoch, an ihr vorbei, auf das kleine Bild des Fernsehers. Erkennen war in seinen Augen.
     
    „Vanessa“, flüsterte der Mann. Und er lächelte. Ein sanftes Lächeln, das so unwirklich wirkte, so menschlich, daß Susan sich abwenden mußte.
     
    Turow streckte die Hand aus, um den Bildschirm zu berühren, als könnte er durch die Glasscheibe hindurchgreifen, um die Großaufnahme seiner Frau zu berühren, die mit ihren Augen in eine Kamera starrte,  die mehr als drei Kilometer entfernt von hier aufgestellt war.
     
    Eine Kamera, die in irgendeiner Wohnung aufgestellt war, wo es nicht nach Blut und Schweiß und Erbrochenem roch und wo man sicher sein konnte, daß man am Ende der Sendung wieder herauskam. Susan beneidete Mike Roth um dieses Interview.
     
    Roth hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf die Kniescheiben gelegt. Sein Kopf lag etwas schief, so wie es alle Zuschauer gewohnt waren, wenn er seine Interviews führte. Das sollte seine erhöhte Aufmerksamkeit zeigen, noch bevor er seine Gespräche begann.
     
    „Hier ist Mike Roth mit einem Live-Bericht aus Battery Park City, wo ich zusammen mit Vanessa Kesel bin.“
     
    Eine künstlerische Pause. Atmen. Live.
     
    „Vanessa Kesel ist die Ex-Frau von Donald Turow,  der seit den frühen Morgenstunden mehrere Geiseln im Harper‘s Supermarkt gefangenhält. Die noch lebenden vier Personen will der Mann freilassen, sobald er die Gelegenheit bekommen hat, mit seiner Frau zu sprechen. In wenigen Augenblicken werden wir live ins Harper‘s zurückgeben, wo Susan Miller