Liverpool Street
längst wusste. Vielleicht befürchtete ich nur, sie im nächsten Augenblick wieder verschwinden zu sehen, wie die Vision meines Vaters am Strand.
»Ist das ihre Mutter?«, murmelte jemand und Hazel antwortete: »Nein, die ist doch …«, aber den Rest hörte ich schon nicht mehr. Ich rannte die Straße hinunter, schneller und schneller, bis meine Füße kaum noch den Boden berührten. Es fühlte sich an, als liefe die Zeit mit mir zurück, Frühling, Winter, Herbst, der späte Sommer. Als ich ankam, war ich nie fort gewesen.
»Ich dachte, ich sehe dich nie wieder!«, stammelte ich außer Atem.
Dass ich auch nur einen Moment geglaubt hatte, sie vergessen zu können! Sie hielt mich auf Armeslänge von sich und während ich in einer Welle von Glück alles wiederentdeckte, was mir vertraut war – ihr herrliches Sonnenstrahlenlächeln, die warmen grünen Augen, ihren heiteren, liebevollen Blick auf mich –, erkannte ich an der Art, wie sie mich anschaute, wie sehr ich selbst mich verändert haben musste in den acht Monaten, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. »Himmel, Frances, bist du das?«, sagte sie und lachte, die Stimme voller Tränen.
Amanda Shepard spazierte über die Dorfstraße von Tail’s End zurück in mein Leben, sie war einfach wieder da.
Ich wusste es noch nicht, aber während die anderen mich an Amandas Arm die Straße hinaufkommen sahen, strich Lesley meinen Namen auf ihrer Liste durch, meinen eigenen und die Namen von Luke und Ey-Dolf. »Möchtest du mit mir zusammenwohnen, Hazel?«, fragte sie.
»Gibt es hier irgendwo einen Ort, an dem wir in Ruhe reden können?«, fragte Amanda mich.
»Reden?«, echote ich erschrocken. Der Gedanke, dass ihr überraschendes Auftauchen einen bestimmten Anlass haben könnte, war mir noch gar nicht gekommen, doch mit einem Anflug von Furcht fiel mir nun auf, dass es eine Spur zu ungewöhnlich war. Es gab einen Zug zurück gegen sieben Uhr abends, doch den ganzen Weg aus London zu kommen, nur um zwei Stunden mit mir zu verbringen – das tat niemand einfach so!
Und plötzlich bemerkte ich, was mir in der Freude des Wiedersehens zunächst entgangen war: Amanda sah angespannt aus. Ihr Gesicht war blass, die Wangenknochen stachen hervor und ich sah feine Linien darunter, die im Sommer mit Sicherheit noch nicht da gewesen waren. Dass die letzten Monate ihr sehr zugesetzt haben mussten, hatte ich mir längst gedacht, doch da war noch etwas, und es machte ihr Angst.
Auf einmal wurde ich ganz ruhig. »Wir können in unseren Klassenraum gehen.«
Durchs Kirchenschiff gelangten wir in den Seitenraum, der unsere kleine Schule beherbergte. »Sieh mal!« Ich zog Amanda zur Weltkarte: »Dieses Fähnchen ist Gary! Und hier unten steckt Frank Duffy!«, und sah zu, wie sie vorgab, die Namen zu lesen. »Es geht um Papa, nicht wahr?«
»Ja, Schatz«, sagte sie leise. »Ich habe dir einen Brief deiner Mutter mitgebracht.«
»Sie hat dich gebeten, mir einen Brief zu überbringen?«
»Ja, sie dachte wohl, es würde dich ein wenig trösten.«
Ich sah sie aufmerksam an. »Sie hatte Recht«, sagte ich.
Amanda wandte die Augen ab. »Hat sie dir noch etwas gesagt?«, wollte ich wissen.
»Auch das … steht in deinem Brief.«
Groningen, 12. April 1940. Mein Ziskele, als Papa und ich neulich darüber sprachen, wie wir dir am besten eine Nachricht zukommen lassen könnten, wenn einem von uns etwas zustoßen sollte, waren wir uns schnell einig, dass wir deine Mrs Shepard darum bitten würden. So hoffe ich, dass sie nun bei dir ist, wenn du liest, was ich dir heute erzählen muss.
Ziska, dein Papa ist vorgestern gestorben, irgendwann zwischen drei und sechs Uhr morgens. Ein dritter Herzinfarkt, der ihn offenbar im Schlaf ereilt hat – falls er aufgewacht ist, hat er jedenfalls nicht nach der Schwester geklingelt.
Es war der Tag nach dem deutschen Angriff auf Norwegen und wie ich deinen sofortigen Briefen an uns entnehme, hast du gleich gespürt, was das für uns bedeutet.
Schatz, diesen Brief von dir hat Papa nicht mehr bekommen, aber ich denke daran, was er mir bei einem meiner letzten Besuche erzählt hat: wie ihr beide euch an deinem Geburtstag verabredet habt und wie er ganz deutlich gespürt hat, dass du an dem Tag bei ihm warst. Ich wünschte, ich wäre selbst auf diese wunderbare Idee gekommen, aber Papa und du hattet immer einen besonderen Draht, nicht wahr? Ich habe mich oft gefragt, warum du und ich es schwerer hatten … aber so ist es nun einmal. Nun
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