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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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trauern wir beide um diesen wunderbaren Menschen und sind nicht einmal jetzt beisammen!
    Eine Sache muss ich dir noch erzählen, dann darfst du daraus machen, was du willst. Als du mich im August batest, in London bleiben zu dürfen, habe ich allein entschieden, dich evakuieren zu lassen. Ich war sicher, dass Papa mir zustimmen würde, doch im Gegenteil, er war sehr aufgebracht, als er es erfuhr, und sagte: »Unsere Tochter hat Menschen gefunden, die sie lieben. Ist das nicht mehr wert als eine Sicherheit, die es sowieso nicht gibt?«
    Nun, wo er gegangen ist, weiß ich, dass er Recht hatte. So sende ich dir anbei die Erlaubnis – in Papas und in meinem Namen –, mit Mrs Shepard zurück nach London zu fahren, wenn du das immer noch möchtest. Ich schreibe auch ihr, um alles zu erklären …
    Die Bescheinigung, um die ich meine Mutter vor einer halben Ewigkeit gebeten hatte, lag bei – ein weißes, knapp beschriebenes Blatt Papier mit Unterschrift, das einzig Fassbare in einer Folge völlig unwirklich scheinender Ereignisse. Papa tot, Amanda hier bei mir in Tail’s End und die Entscheidung über mein Leben plötzlich in meiner eigenen Hand …
    Amanda, die, während ich Mamus Brief wieder und wieder las, still am Fenster gestanden und hinausgeschaut hatte, kam zu mir und setzte sich neben mich auf die Tischkante. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut, Frances.«
    Aber ich wusste noch nicht, wie ich über Papa sprechen sollte.
    »Ist London sicher?«, fragte ich.
    »Nein!«, antwortete Amanda mit Entschiedenheit.
    Ich sah wieder hinunter auf das Blatt mit der Unterschrift, das Klarste, was ich besaß, der einzige aller möglichen Schritte, den ich überhaupt erkennen konnte.
    »Der Zug geht um sieben?«
    »Du solltest nichts überstürzen. Vielleicht kann ich über Nacht ein Zimmer bekommen.«
    »Nein. Lass uns gehen.«
    Die Stones standen ratlos im Flur, während ich meine wenigen Habseligkeiten packte. Pearl war sogar gerannt und hatte ihren Vater aus dem Sägewerk geholt.
    »Wir leben hier nicht gerade im Luxus, wie Sie sehen«, bemerkte Mrs Stone zu Amanda und bedeckte die hektischen roten Flecken an ihrem Hals verstohlen mit der Hand. »Vier Kinder, der Kleinste noch in den Windeln, und dann noch ein Fünftes dazu … leicht war das nicht!«
    Seit meine Pflegemutter aus London über die Schwelle getreten war, stand Mrs Stone die Angst ins Gesicht geschrieben. Ihr Flüchtling, ihr Dienstmädchen, die Niedrigste von allen wurde abgeholt von dieser schönen, gut gekleideten Dame, die mit leiser, kultivierter Stimme sprach und ihre Frances mit allen Zeichen der Zuneigung »Schatz« nannte. Mrs Stone konnte nicht wissen, dass ich Amanda von meiner ersten schrecklichen Zeit in Tail’s End nie erzählt hatte, aber dieses märchenhafte Ende erlebte sie nun zweifellos aus der Sicht der entsetzten Stiefmutter, die ahnt, dass ihre Enttarnung nur eine Frage von Minuten sein kann!
    »Da wäre noch etwas …«, sagte ich zu Amanda. Mrs Stone schluckte.
    »Was ist mit Ey-Dolf?«, fragte ich.
    Eilfertig erwiderte Mrs Stone: »Möchtest du ihn mitnehmen?«, was ihr entrüstete Blicke der Familie eintrug.
    Der Hund, der seinen Namen gehört hatte, spitzte erwartungsvoll die Ohren.
    »Darf ich?«, fragte ich rasch, streckte die Hand nach ihm aus und warf Amanda einen flehentlichen Blick zu. Doch zu meiner Enttäuschung zögerte sie.
    »Ich glaube, du tätest ihm keinen Gefallen. Denk doch bloß an die Rationierung, den Fliegeralarm … und in die öffentlichen Luftschutzbunker dürftest du ihn auch nicht mitnehmen …«
    »Wir passen schon auf ihn auf«, versprach Mr Stone.
    »Er wird gern unter dem Kinn gekrault«, sagte ich. »Genau hier. Und vielleicht ist er früher nicht spazieren gegangen, aber jetzt schon …«
    Ich konnte nicht weitersprechen. Kaum legte Ey-Dolf sein stoppeliges Kinn in meine Hand, löste er sich vor meinen Augen auch schon in einem heißen See von Tränen auf und ich zog ihn entsetzt näher heran, um das Gesicht in seinem Fell zu verbergen.
    Das durfte nicht sein! Wie konnte mir das passieren? Gerade erst hatte ich von Papas Tod erfahren und nichts gefühlt, gar nichts, und nun wollte ich wegen eines Hundes weinen! Dies musste mit Sicherheit schlimmer sein als alles, was ich bisher falsch gemacht hatte! Verzweifelt kämpfte ich dagegen an und schluckte die Tränen herunter, bis sie mir im Hals brannten.
    »Hab keine Angst! Wir werden sehr gut für ihn sorgen!«, sagte

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