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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ich nicht, denn schon nach dem ersten Schritt ins Nichts hatte ich mich instinktiv an ihren Mantel geklammert. Jetzt erkannte ich auch, wozu meine verdunkelungserprobte Pflegemutter einen Regenschirm mit auf die Reise genommen hatte: Wie eine Blinde schlug sie ihn im Vorwärtsgehen nach rechts und links auf den Boden, ein zielstrebig klingendes Klack-Klack, das mich etwas beruhigte. So bewegten wir uns an der Bahnhofswand entlang recht zügig auf den Taxistand zu.
    Beim Aussteigen aus dem Zug war ich noch ganz benommen gewesen, doch wenn es nach der unheimlichen Ankunft überhaupt noch etwas bedurfte, um mir den Schlaf zu vertreiben, dann schaffte es diese Taxifahrt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich nach vorn, jede Faser meines Körpers hellwach und Alarm schrillend, während Amanda und der Fahrer diskutierten, ob es sich bei dem pechschwarzen Loch, das uns verschluckte, schon um diese oder jene Straße handeln konnte. Nach einer Ewigkeit, als ich schon anzweifelte, dass wir überhaupt noch in London waren, kommandierte Amanda plötzlich: »Halt! Ein Fußgänger!«
    Woran sie das zu erkennen glaubte, war mir ein Rätsel, aber als sie aus dem Fenster rief: »East End Road?«, antwortete tatsächlich eine Stimme: »East End Ecke North Circular!«, und dann sah auch ich das matte Licht einer Taschenlampe aufblitzen. »Nun weiß ich genau, wo wir sind!«, erklärte meine Pflegemutter zufrieden und lehnte sich zurück.
    »Und ich weiß genau, dass ich nie mehr zurückfinde!«, brummte der Taxifahrer.
    Es war halb zwei, als wir endlich im Harrington Grove eintrafen. Wir tasteten uns durch den Vorgarten, ich hörte das suchende Kratzen eines Schlüssels über Holz, dann standen wir auch schon in Licht gehüllt und eine Stimme mit unverkennbar deutschem Akzent rief begeistert: »Ich wusste, dass ihr heute Nacht noch kommt!«
    Bis zu diesem Moment hatte ich vollkommen vergessen, dass ich in unserem Haus auf Walter treffen würde! Erst nach zwei, drei verwirrten Sekunden fiel mir ein, dass er ja seit Kurzem ebenfalls hier wohnte. Diese Überraschung und das nach der langen Dunkelheit fast blendende Licht, das uns drinnen erwartete, ließen mich, kaum dass sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, perplex und blinzelnd mitten im Flur stehen bleiben. »Mensch, Ziska, es tut mir leid wegen deinem Vater«, sagte Walter unbeholfen und gab mir die Hand.
    Er trug Hosen und eine Strickjacke von Gary und wenn er bei seinem letzten Besuch in diesem Haus, an den ich mich erinnerte, schüchtern gewesen war, so war das in einem Maße vorbei, dass ich ihn fast nicht wiedererkannte.
    »Ich habe Tee vorbereitet«, verkündete er – ein durchaus gewöhnlicher Satz, aus Walters Mund allerdings nur ein weiterer Schock. Ich war der Ankömmling … und er fühlte sich hier zu Hause!
    Wir gingen in die Küche, wo tatsächlich eine komplette kleine Nachtmahlzeit wartete, und nach langer Zeit hörte ich wieder einen Brotsegen auf Hebräisch. Ich bin zurück!, sagte ich mir fassungslos und ließ die Augen schweifen, während wir aßen. Die Küche sah aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, nur mein Platz auf der Bank fühlte sich anders und viel weniger bequem an: Ich war zu groß geworden, um das Kinn auf meine auf dem Tisch verschränkten Arme legen zu können.
    Und statt Millie war nun Walter da! Er erzählte Amanda, wie er an diesem Tag im Kino zurechtgekommen war, und nicht, dass ich viel Lust gehabt hätte zu reden … aber dass diese beiden, die ich als Teil meines Lebens betrachtete, offensichtlich gemeinsame Erlebnisse ohne mich hatten, gefiel mir überhaupt nicht!
    Nach einigen Minuten fragte ich mich, ob ich eigentlich noch mit ihnen am Tisch saß oder nicht vielleicht schon zu Bett gegangen war. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Amanda es auch merkte und meinte: »Die arme Frances muss ja langsam denken, sie sei unsichtbar! Kinder, lasst uns nach oben gehen und noch ein paar Stunden schlafen.«
    Ich konnte mich irren, aber es kam mir vor, als sei Walter nicht besonders glücklich, in das Wort »Kinder« einbezogen zu werden! Ich hingegen stand erleichtert auf.
    »Auspacken können wir auch morgen … und Mrs Lewis vom Flüchtlingskomitee anrufen. Aber als Erstes müssen wir dir ein ration book, ein Lebensmittelbüchlein besorgen«, sagte Amanda auf dem Weg die Treppe hinauf. »Nun, hier sind wir. Erkennst du es wieder?«
    Bis auf die schweren Verdunkelungsvorhänge vor dem Fenster war dies tatsächlich mein altes, geliebtes

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