Liverpool Street
als Sorgen haben, wir würden irgendwo auf dem Land ein fast normales Leben führen und der Krieg würde sich anderswo abspielen. Doch im Gegensatz zu mir würden sie wissen, wohin sie anschließend mit großer Wahrscheinlichkeit zurückkehren konnten. Mein Vater war tot, gestorben, während ich in Tail’s End Spaß gehabt hatte, meine Mutter in Gefahr, in Holland von den Deutschen überrollt zu werden.
An diesem Abend auf der Straße nach Tail’s Mews ahnte ich zum ersten Mal, dass ich Mamu möglicherweise sehr, sehr lange nicht wiedersehen würde und dass Amanda mit ihrer Familie das einzige Zuhause war, das mir blieb.
Um einen Menschen zu trauern, den man fast anderthalb Jahre nicht gesehen hat, ist schwer – schwerer noch, wenn man nur aus einem Brief von seinem Tod erfährt. Die Erschütterung, der Schmerz, die Trauer um meinen Vater hatten sich nach der Pogromnacht abgespielt, in der ich ihn verloren hatte; nun, da ich im Zug nach London saß, wusste ich nicht, wie ich mich dazu bringen konnte, den Verlust noch einmal zu fühlen.
Nur um Mamu hätte ich in diesem Moment weinen können. Papa war ihr Leben gewesen, sie hatte nie aufgehört, um ihn zu kämpfen, für ihn zu hoffen. Plötzlich machte mir der Gedanke Angst, ihr gleich nach meiner Rückkehr schreiben zu müssen. Kein Wort von mir würde ihrem Verlust gerecht werden, keine Träne von mir ihrem Schmerz. Was in aller Welt sollte ich bloß jemals wieder zu ihr sagen?
Vor dem Fenster huschten die Farben in graues Dämmerlicht. Die spärliche Beleuchtung des Zuges machte schläfrig; uns gegenüber saß ein älterer Mann und schlief friedlich. Amanda, die neben mir saß, nahm unter den Blicken der Mitpassagiere Brot und Käse aus Mrs Stones Tasche und schnitt uns etwas davon ab, legte meine Portion auf mein Bein, wo ich sie wegnahm und gehorsam aß, nun doch froh, dass wir ein Abendessen hatten. Es tat mir leid, dass ich sie vorhin so angefahren hatte, immerhin war sie den ganzen Tag meinetwegen unterwegs gewesen. Mit schlechtem Gewissen fragte ich: »Woher wissen wir, wann wir aussteigen müssen?«
Denn zum ersten Mal wurde auch ich Zeugin der merkwürdigen Verordnung, sämtliche Hinweisschilder im Land entfernen zu lassen. Unter den Fahrgästen herrschte vor und nach jeder Station gedämpfte Unruhe, ein ständiger Summton hing über dem Zug: »War das eben Chilton oder Paisley? Ach herrje, wir sind schon in Little Fields, Stanley, wir müssen raus! « Selbst der Schaffner schien nicht immer zu wissen, wo er war, wenn wir an einem Bahnhof hielten.
»Keine Sorge, Schatz, wir fahren bis zum Endbahnhof Kings Cross. Schlaf ein bisschen, es dauert noch über drei Stunden.«
Ich zog die Beine an und faltete mich auf meinem Sitz zusammen, den Kopf in Amandas Schoß gebettet – weniger aus Müdigkeit denn aus Erleichterung, dass sie mich immer noch »Schatz« nannte. Aber nach einigen Minuten fielen mir doch die Augen zu. Good night children, everywhere …, summte es im Dahindämmern in meinem Kopf.
»Sie holen Ihre Kleine nach Hause, ja?«, fragte jemand. »Meine Tochter überlegt noch … ich sage ihr ständig, sie soll es tun. Sie wissen ja, when your number’s up, your number’s up. Wenn der da oben unsere Nummer zieht … was wollen wir machen?«
Amandas Antwort hörte ich schon nicht mehr. Sie richtete mich auf und kniff mich zart in die Wange und als ich erschrocken fragte, was passiert sei, waren wir schon in Kings Cross.
Walters vergnügliche Schilderungen hatten mich zwar vorbereitet, doch der Anblick, der sich uns bot, als wir den Bahnhof Kings Cross verließen, war nichts anderes als ein Schock. Nie hatte ich den Vorplatz und die breite Euston Road anders als bunt und lebhaft erlebt, mit hastenden Fußgängern, hupenden Taxis, sich träge vorwärtsschiebenden Bussen bei Tag und einem steten Fluss vorbeirauschender Lichter bei Nacht. Mein erster Gedanke im Verlassen des Bahnhofs war, dass das Leben selbst zum Stillstand gekommen sein musste. Draußen war nichts als eine dumpfe, wie betäubt daliegende Dunkelheit; nur langsam machten meine Augen Bewegungen aus. In unserer Nähe schienen noch andere Fußgänger zu sein, ich hörte ihre Stimmen, und als ein einzelnes Auto sehr langsam an uns vorbeifuhr, erkannte ich, dass die Scheinwerfer mit Folie beklebt waren.
»Blast!« , murmelte Amanda. »Nebel, ausgerechnet heute Nacht, wo wir mit dem Taxi fahren müssen! Gib mir die Hand, Frances!«
Wieso sie mich dazu aufforderte, wusste
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