Liverpool Street
ich sehe. Ist es dir gut ergangen? Was gibt es Neues von deiner Familie?«
Ausführlich erzählte ich ihm von Tail’s End, den Wyckhams, den Stones, Hazel und Ey-Dolf. »Und deine Familie?«, wiederholte er schon wesentlich vergnügter.
Ich zögerte. Wollte er wirklich hören, dass Papa nicht mehr lebte, Onkel Matthew in Frankreich verschollen und Walter auf der Isle of Man interniert war, dass Gary im Atlantik von U-Booten gejagt wurde und ich seit Wochen nichts von Mamu gehört hatte? »Mrs Shepard und ich betreiben das Kino jetzt alleine!«, wich ich aus.
Professor Schuelers Gesicht umwölkte sich sofort. »Oje«, murmelte er. »Was ist passiert?«
Schon nach wenigen Sätzen merkte ich, wie gut es tat, endlich einmal alles zu erzählen. Ich musste nicht einmal weinen. Als ich geendet hatte, saßen wir kurze Zeit still da.
»Ich habe damals meine Schwester in München zurückgelassen«, sagte Professor Schueler plötzlich. »Sie wollte nicht weg, hat sich zu alt gefühlt für einen Neuanfang. Als sie endlich dazu bereit war, war es zu spät.«
»Genau wie mein Vater damals!«
»Und? Glaubst du, ich hätte auch darauf verzichten sollen? Habe ich sie im Stich gelassen? War es egoistisch, mich selbst zu retten?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte ich vorsichtig. »Höchstens ein bisschen. Ihre Schwester hat Sie doch schließlich auch allein gelassen, oder nicht?«
»Das stimmt wohl. Sie ist froh, mich nicht zum Bleiben überredet zu haben … hat immer wieder davon geschrieben, als es noch ging. Aber wie furchtbar es ist, als Einziger in Sicherheit zu sein, habe ich ihr nie gesagt, denn dann müsste sie sich genauso schuldig fühlen wie ich.«
In der Ecke des Raumes, wo das Radio stand, kam leichte Unruhe auf.
»Ich denke oft, dass meine Mutter hier sein könnte, wenn ich mir mehr Mühe bei den Haustürbesuchen gegeben hätte«, gestand ich bedrückt.
Aber Professor Schueler schüttelte energisch den Kopf. »Du trägst keine Verantwortung für deine Mutter, Ziska! Es sind die Erwachsenen, die Entscheidungen treffen mussten. Deine Eltern haben einmal eine Entscheidung getroffen, die offensichtlich falsch war: in Deutschland zu bleiben. Aber das Wunderbare ist: Sie konnten dieser falschen eine andere, eine gute Entscheidung entgegensetzen! Sie haben dich retten können! Tu jetzt alles dafür, damit die gute Entscheidung obsiegt.«
»Und wie?«
»Lebe!«, sagte er feierlich. »Und lebe gern! Das ist das Einzige, was du für sie tun kannst.«
Jemand drehte das Radio lauter. Ich hörte eine aufgeregte Stimme auf Englisch und auf Deutsch ein leises Gemurmel: »Was sagt er? Was sagt er?«
»Sprichst du Englisch, Kind?«, rief plötzlich jemand und alle wandten sich zu mir um.
»Sie spricht großartig Englisch!«, sagte Professor Schueler stolz.
Ich stand gehorsam auf und ging zum Radioapparat hinüber. Die alten Männer wurden ganz still und schauten mich gebannt an. Es dauerte nicht lange, bis ich die Nachricht verstanden hatte – und eine volle Schreckensminute, bis ich meine Sprache wiederfand.
»Unsere Streitkräfte ziehen sich aus Frankreich zurück«, hörte ich mich endlich sagen. »Die Einheiten bewegen sich aus dem ganzen Land in Richtung Dünkirchen an der belgischen Küste. Die Navy zieht alle verfügbaren Schiffe und selbst kleine Privatboote im Ärmelkanal zusammen, um die Soldaten zu bergen. Zu Tausenden stehen Engländer und Franzosen am Strand Schlange, um Platz in den Booten zu bekommen, sie sind wie Zielscheiben für die deutschen Jagdflieger.«
Die Männer stöhnten entsetzt auf.
»Auch die RAF ist in der Luft … es spielen sich entsetzliche Szenen ab«, übersetzte ich weiter, jetzt im Gleichklang mit dem Radiosprecher. »Die Schiffe, die bereits ablegen konnten, werden auf dem Weg über den Kanal von U-Booten und Tieffliegern beschossen. Sie hatten damit gerechnet, etwa 50000 Soldaten herauszubringen, aber das Ausmaß dieser Rettungsaktion ist offenbar viel größer … sie wird voraussichtlich noch Tage dauern … und ich möchte jetzt gehen, bitte! Ich muss sofort nach Hause!«
»Danke!«, riefen mir einige nach. Ich winkte Professor Schueler zu und stürzte auf die Straße, rannte zur U-Bahn-Station.
Die Nachricht sprach sich bereits herum wie ein Lauffeuer: Die Briten flohen aus Frankreich! Jetzt ging es nur noch um die Verteidigung Englands. Die Soldaten, die man jetzt zu retten vermochte, würden unsere einzigen Landstreitkräfte sein – gegen die riesige Armee
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