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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dem Weg über den Schulhof sah ich noch etwas: einen großen Militärlaster, der vor der Turnhalle vorfuhr. Pfadfinder sprangen heraus und begannen abzuladen. Was sie einander anreichten, sah aus wie Decken, auch Tische waren dabei und große Metallkannen. Ich blieb wie elektrisiert stehen. »Hier werden Soldaten aus Dünkirchen untergebracht, stimmt’s?«, fragte ich.
    »Darüber reden wir nicht«, sagte einer der Jungen abweisend.
    »Aber wir warten auch auf jemanden … bitte!«
    »Dein Vater?«
    »Ja!«, behauptete ich.
    »Tut mir leid. Es sind nur Franzosen, die hierherkommen, fast tausend Franzosen.«
    Enttäuscht zog ich mich zurück.
    Dein Vater, ja? Bist du noch richtig im Kopf, Ziska?
    Ich lief nach Hause, ohne Bekka zu antworten. Es war der fünfte Tag nach Beginn des Rückzugs aus Dünkirchen. Im Mehrstundentakt rollten die Züge aus den Hafenstädten in den Großraum London, vorbei an zahllosen Menschen, die an der Bahnstrecke standen, um den Soldaten einen aufmunternden Empfang zu bereiten. Wann würde der letzte Zug fahren? In den ersten beiden Tagen war ich noch recht zuversichtlich gewesen, Onkel Matthew jeden Augenblick wiederzusehen, doch mit jeder weiteren Stunde, die verging, verlor ich ein kleines Stück meiner Hoffnung.
    Amanda war im Garten, trug Hosen und einen alten Kittel und hackte und zupfte mit großer Energie in ihrem Gemüsebeet herum. Um den Kopf hatte sie ein Baumwolltuch gebunden, mit dessen Enden sie sich ab und zu den Schweiß abwischte. Als ich zur Küchentür hinaustrat, richtete sie sich überrascht auf.
    »Die Schule ist aus. Sie wird für die Unterbringung von Soldaten gebraucht. Nein, nein!«, fügte ich rasch hinzu, als sie zusammenfuhr. »Ich habe gleich nachgefragt! Es sind nur Franzosen.«
    »Franzosen …«
    »Ja, leider.« Verwundert sah ich, wie sie ihre Hacke wegwarf, an mir vorbeieilte und schon im Laufen versuchte, sich die Stiefel auszuziehen. »Amanda! Hörst du nicht? Es sind Franzosen, er ist nicht dabei!«
    Oh bitte, lass sie nicht durchdrehen, das ertrage ich nicht!, flehte ich stumm.
    »Franzosen«, sagte sie noch einmal. In ihren Augen stand jetzt ein eigentümlicher Glanz. »Ich glaube, genau dort könnte er sein!«
    Wenn die Pfadfinder ernsthaft geglaubt hatten, tausend Franzosen ohne öffentliche Anteilnahme in der Schule unterbringen zu können, dann waren sie in der Zwischenzeit eines Besseren belehrt worden. Das ganze Schulgelände summte von Menschen. Pfadfinder, Lehrer, Hausfrauen mit spontan mitgebrachten Teekannen und Männer von der Home Guard empfingen die überwältigten Soldaten, boten ihnen zu trinken an und drückten ihnen Decken in die Hand. Kinder wanderten umher und bestaunten die Fremden, kicherten über deren Sprache. Eine lange Reihe von Bussen wartete noch darauf, ihre Insassen entladen zu können.
    »Bitte weitergehen! Lassen Sie die Busse durch!«, rief jemand in ein Megafon. »Gehen Sie doch in die Turnhalle, meine Herren, es gibt heiße Suppe!«
    Aber die meisten Franzosen standen nur verwirrt und erschöpft herum, als könnten sie noch gar nicht begreifen, was ihnen widerfahren war. Offenbar verstanden viele auch kein Englisch. Ein Mann ging einfach beiseite und streckte sich neben der Hauswand aus, um innerhalb weniger Sekunden einzuschlafen. Sofort folgten andere seinem Beispiel.
    Wir waren an den Bussen entlanggelaufen, Amanda auf der rechten, ich auf der linken Seite, und hatten versucht, Onkel Matthew zu entdecken – oder vielleicht sah er ja uns, wenn er hinausschaute! Dann sprach Amanda auf dem Schulhof einzelne Soldaten an, aber niemand schien etwas von meinem Pflegevater zu wissen. Ich ging weiter, schaute in fremde Gesichter und fühlte, wie sich Amandas Enttäuschung in mein Herz schlich, obwohl ich selbst keinen Augenblick ernsthaft geglaubt hatte, dass wir ihn hier finden würden.
    Neben dem Eingang zur Turnhalle scharte sich eine Traube Soldaten um zwei Männer, die ihnen Papier und Stifte anboten, damit sie einige Zeilen an ihre Angehörigen schreiben konnten. Die Stifte wurden den Männern beinahe aus der Hand gerissen und im Vorbeigehen sah ich, dass ich einen von ihnen kannte – einen Mann mit rotblondem Vollbart, den ich mit der Synagoge in Verbindung brachte. Er sprach Französisch mit den Soldaten, während ich mich an ihnen vorbei in die Turnhalle drückte.
    Drinnen verteilten Pfadfinder Suppe aus riesigen Terrinen, dazu Brote, Kaffee und Tee. Die Soldaten schlürften geräuschvoll direkt aus

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