Liverpool Street
der Deutschen.
Das war das Straßengespräch, das Gespräch auf dem Bahnsteig und in der U-Bahn. Doch in meinem Kopf war nur ein einziger Gedanke: War Onkel Matthew unter denen, die gerettet wurden?
Es war Samstag, kurz vor Ende des Schabbat, und als ich Amanda nicht zu Hause antraf, wusste ich, dass sie die Nachricht ebenfalls gehört hatte und spontan in die Synagoge geeilt sein musste. Die Frauen auf der Empore rutschten ein wenig beiseite, damit ich zu ihr durchschlüpfen konnte. Unten im Saal war ein einziges Murmeln und Singen; die Tür stand offen und mehr und mehr Beter gesellten sich hinzu. Schuldbewusst lauschte ich den vielen hebräischen Anrufungen – hätte ich doch bloß nicht aufgehört, unsere Sprache zu lernen!
Richtig gebetet hatte ich schon lange nicht mehr, doch in dieser Nacht merkte ich, dass man immer wieder damit anfangen kann, egal in welcher Sprache.
Lieber Gott, verschone bitte Onkel Matthew, der ein guter Mensch ist und dich liebt und der geliebt und vermisst und gebraucht wird. Gib ihn uns zurück, besonders Amanda, die sich doch noch mit ihm versöhnen muss. Lass sie wieder zusammenkommen, sie haben anderen so viel Gutes erwiesen, vor allem mir, und ich will nur noch tun, was gut und richtig ist, wenn du uns Onkel Matthew zurückgibst. Ich werde mich über nichts mehr beschweren, in den Hebräischunterricht gehe ich auch zurück …
Entschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben, wehrte ich mich heftig, als Amanda um halb zehn gehen wollte. Verdutzt setzte sie sich wieder und ich fuhr fort, mit Gott zu handeln. Immer mehr Dinge fielen mir ein, die ich anbieten konnte, und als ich damit zum Ende kam, hatte ich die noch ergiebigere Idee, dass auch Dank Gott vielleicht freuen konnte!
»Frances, es ist elf Uhr! Wir gehen jetzt nach Hause!«, erklärte Amanda schließlich.
»Ich kann nicht! Ich bin noch nicht fertig!«
Aber es half nichts: Hatte ich nicht gerade eben unter anderem gelobt, Amanda von nun an immer gehorchen zu wollen? Als ich widerstrebend aufstand, konnte ich mich kaum noch bewegen. Fast fünf Stunden hatten wir in der Synagoge gesessen! Draußen wartete Finsternis auf uns, die Stadt lag wach und hielt den Atem an. Ich hängte mich bei Amanda ein und horchte dem Gleichklang unserer Schritte auf dem Pflaster.
»Wo werden sie wohl an Land gehen?«, überlegte Amanda plötzlich in die Stille hinein.
»Du meinst –«
»Hinfahren? Am liebsten ja. Dover ist nur wenige Stunden entfernt. Aber es ist sicher nicht der einzige Landehafen, und stell dir vor, Matthew kommt nach Hause und trifft uns nicht an. Nein«, entschied sie, »es hat keinen Zweck. Wir bleiben hier. Aber ich habe nicht die Absicht, in den nächsten Tagen das Kino zu öffnen.«
»Muss ich in die Schule?«
»Natürlich musst du in die Schule. Mach dir keine Sorgen, wenn es etwas Neues gibt, hole ich dich sofort.«
»Nur wenn es dir nichts ausmacht«, sagte ich nach kurzer Überlegung.
»Nichts ausmacht …?«
»Es könnte doch sein, dass du keine Zeit verlieren willst. Dann musst du sofort los! Dann darfst du auf keinen Fall erst zur Schule kommen, hörst du?«
Amanda drückte als Antwort nur meinen Arm. Erst als wir zu Bett gegangen waren und das Licht gelöscht hatten, fügte sie noch etwas hinzu.
»Frances? Bist du wach?«
»Klar, warum?«
»Es ist schön, eine große Tochter zu haben.«
»Der Schulunterricht fällt bis auf Weiteres aus«, begrüßte uns Mrs Holly am Mittwochmorgen. »Die Klassenräume werden vorübergehend für kriegswichtige Zwecke gebraucht. Bitte geht wieder nach Hause und nehmt alle eure Sachen mit.«
Irgendwo im Schulgebäude hörte ich kleinere Kinder jubeln; wahrscheinlich hatten sie soeben dieselbe Nachricht erhalten. Im Gegensatz zu ihnen tauschten wir Älteren besorgte Blicke. Kriegswichtige Zwecke … was konnte damit wohl gemeint sein? Schon jetzt nahm die Erste-Hilfe-Station einen Großteil des früheren Schulgebäudes in Beschlag und schräg über den Hof hatte die Hilfsfeuerwehr in der ehemaligen Turnhalle Quartier bezogen. Offiziell war unsere Schule evakuiert, obwohl fast alle Schüler zurück in Finchley waren, und wir konnten froh sein, überhaupt Räume für den Unterricht zur Verfügung zu haben.
Selbst damit war es nun also vorbei! Kleine Gruppen unschlüssiger Kinder standen in den Fluren, auf dem Schulhof und zögerten, sich zu verabschieden. Von einer Minute zur anderen wusste niemand mehr, wann er die anderen wiedersehen würde.
Doch auf
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